Cooldown. Markus Vath

Cooldown - Markus  Vath


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waren sie selbst »ganz unten«. Dies ist fatal, weil eine Gruppe sich einerseits nach innen ihrer selbst versichern, sich aber auch nach außen ebenso sichtbar abgrenzen will. Diese Abgrenzung nach unten war nun nicht mehr möglich. Die ursprüngliche Gruppe »Arbeitslose« verschmolz mit der Gruppe »Sozialhilfeempfänger«.

      Nun setzte ein Mechanismus ein, der in der Sozialpsychologie »labelling« – Etikettierung – genannt wird: »Okay, wenn alle Welt glaubt, dass ich ganz unten bin (einschließlich mir selbst), dann benehme ich mich auch, als wäre ich ganz unten.« Die Bezeichnung »hartzen« entstand und verankerte dieses Label dauerhaft. Für diejenigen, die trotz aller widrigen Umstände versuchen, aus dieser Gruppe auszubrechen und wieder eine Arbeit zu finden, wird es schwer. Denn die Gesellschaft ihrerseits reagiert mit Vorurteilen auf »Hartz-IVler«, nicht zuletzt befördert durch die Boulevardmedien. So stellt die medienkritische Seite BILDBlog fest: »Gegen Hartz-IV-Empfänger zu hetzen, gehörte bei ›BILD‹ ja schon immer zu den Königsdisziplinen.«40 Und auch der paritätische Wohlfahrtsverband meldete sich zum Thema Hartz IV und BILD zu Wort: »Hier wird ohne jede empirische Grundlage auf unverantwortliche Art und Weise gegen Millionen Menschen gehetzt und ein Bild der schmarotzenden Massen geschürt, das mit der Realität nichts zu tun hat«.41 Die BILD-Zeitung verstärkt durch ihre Kampagnen den Abwärtsvergleich in einer gesellschaftlichen Dimension und sorgt so für eine latente Entsolidarisierung breiter Bevölkerungsschichten gegenüber den ökonomisch Schwächsten. Die neue Unsicherheit wird dadurch unnötig verstärkt.

       Wenn die Lebensentwürfe weniger planbar werden, muss die Vermögensplanung flexibel werden

      Wenn immer mehr Menschen verunsichert sind und sich auf ihre langfristige ökonomische Versorgung nicht mehr verlassen können, hat das Auswirkungen auf die Lebensplanung insgesamt. Man kennt das aus der Wirtschaft: Praktisch jede Firma unternimmt eine jährliche Budgetierung und versucht, Einnahmen, Kosten, Investition und Gewinn unter einen Hut zu bringen. Was nun für ein Unternehmen die prognostizierten Einnahmen aus Aufträgen etc. sind, das ist für den Normalbürger sein geplantes, vielleicht schon verplantes Einkommen. Und genau wie Unternehmen in schwankenden Märkten oder in Krisen Anpassungen vornehmen müssen, Pläne angleichen oder auch einmal Mitarbeiter entlassen, müssen Menschen ihre Finanz- und Lebensplanung anpassen, wenn sie nicht mehr mit einer festen Arbeitsstelle oder einem festen Einkommen rechnen können. Dass dies immer mehr Menschen betrifft, ist eine Tatsache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Ich rede weder einer wirtschaftlichen »Vollzeitstellen-Landschaft« das Wort noch einer totalen Flexibilisierung. Wir müssen uns vielmehr als arbeitende Gesellschaft darauf einstellen, dass wir bestimmte Dinge nicht mehr planen können bzw. uns in einem ständigen finanziellen Krisenmanagement befinden (Krise nicht in dem Sinne, dass es uns schlecht geht, sondern im Sinne von ständiger Wachsamkeit und Anpassung).

      Auf den Prüfstand müssen notgedrungen als Erstes die Dinge kommen, die eine langfristige finanzielle Planung erfordern und uns binden: Hausbau, Familiengründung, größere Anschaffungen etc. Beispiel Hausbau: Immer noch inszenieren Banken und interessierte Finanzdienstleister Kampagnen, um dem Einzelnen einen Hausbau schmackhaft zu machen. Weil ein Haus ja angeblich »eine Investition in die Zukunft« sei, die sich irgendwann rechne. Doch Fakt ist: Wenn Sie ein Haus bauen oder kaufen, ist das zunächst nur für die Bank eine Investition (die Ihnen einen Kredit gibt und dafür Sicherheiten verlangt). Für Sie ist das 20 oder 30 Jahre lang eine Verbindlichkeit. Das ist ein enormer Unterschied. Die Bank gewinnt immer: Entweder Sie zahlen den Kredit mit Zinsen zurück oder die Bank kassiert die Sicherheit. Sie dagegen sitzen auf einem Schuldenberg von ca. 250 000 Euro + X, den Sie über die nächsten 25 Jahre langsam abbauen. Dieses Geschäftsmodell harmoniert sehr gut mit einer Wirtschaftswundergesellschaft im Vollzeitstellen-Modus. Dort war auch das Ausfallrisiko für Sie als Kreditnehmer überschaubar. In der Gegenwart jedoch ist nur eines sicher: die Unsicherheit. Daher steigt das Risiko eines Kreditausfalls (weil Sie Ihren Job verlieren) überproportional zum Risiko der Bank. Eigentlich macht ein solches Geschäft heutzutage für die meisten Häuslebauer ökonomisch keinen Sinn, sondern bringt ihnen schlaflose Nächte – was eine völlig normale Reaktion ist. Nur wird man indoktriniert von der Werbung und vom Mainstream, weil »man« sich eben ein Haus baut und damit immer noch gesellschaftlichen Erfolg und Status verbindet.

      Hausbau oder -kauf ist nur ein Beispiel dafür, dass wir früher selbstverständliche Denk- und Handlungsweisen überprüfen müssen, wenn sich die ökonomischen Rahmenbedingungen ändern. Der Einzelne muss sich künftig sehr genau überlegen, welchen Betrag er angesichts der neuen Arbeitsmarktdynamik und dem Risiko eines Jobverlusts wie investiert. Das geht über den rein finanziellen Bereich hinaus. Egal, ob es um Familienplanung, Haus, Karriere oder Wohnort geht: In der Zukunft werden wir sehr bewusst über die Bestandteile unseres Lebens entscheiden müssen. Nicht um permanent die Kontrolle zu behalten (ständige Kontrolle ist eine Illusion), sondern um die neue Unsicherheit möglichst gering zu halten. Dies erfordert mehr als die Prüfung der Frage, was die beste Krankenversicherung ist. Wir müssen uns auch fragen nach unseren Träumen und Wünschen, nach unseren Ressourcen und Möglichkeiten.

      Die andere – positive – Seite der Medaille liegt in der Chance, im Leben sehr viele, sehr verschiedene Erfahrungen zu machen. Wir haben mehr Freiheit in unseren Lebensentwürfen und können, wenn wir wollen, die neue ökonomische Dynamik für uns nutzen. Die neue Unsicherheit gibt uns Gelegenheit, uns aktiv mit unserem Leben und unserer Zukunft auseinanderzusetzen. Flexibilität ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Wenn wir im Job keine Sicherheit mehr erwarten können, müssen wir uns andere Fixpunkte schaffen: tragfähige Beziehungen, einen Sinn im Leben, eine positive Lebenseinstellung, die Fähigkeit zu bewusstem Genuss und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen.

       Durch lebenslanges Lernen der neuen Unsicherheit begegnen

      Das lebenslange Lernen ist künftig vielleicht der Schlüssel zu einer erfolgreichen Lebensgestaltung. In Zeiten, in denen sich »die Welt in zehn Jahren mehr ändert als sonst in hundert« (Giovannino Guareschi), müssen wir uns anstrengen, um nicht abgehängt zu werden. Noch nie war unsere Fähigkeit zur Anpassung und zum Lernen so gefragt wie heute. Lernen und Bildung werden zur wichtigsten Ressource sowohl für den eigenen ökonomischen Erfolg als auch für die Gesellschaft insgesamt. Denn der nächste Quantensprung in unserer Entwicklung wird ein geistiger sein. Das ist die Essenz der Dritten Transformation.

      Die Frage ist, ob Institutionen, Arbeitgeber und der Staat in dieser Flexibilität mithalten können und wo wir als Gesellschaft die Grenze zwischen möglicher Flexibilität und Selbstaufgabe ziehen. Die zentrale Frage lautet: Wofür übernimmt der Einzelne die Verantwortung? Und wofür der Staat? Was ist der Verantwortungsbereich der Wirtschaft? Das sind keine leichten Fragen, und sie lassen sich auch nicht von heute auf morgen beantworten. Doch diese Diskussionen müssen wir führen, weil uns die neue Unsicherheit dazu zwingt. Noch haben wir die Möglichkeit, den Wandel zu gestalten. Denn die Karten werden neu gemischt: Arbeitskräfte werden nach Deutschland einwandern, Arbeitsanforderungen verändern sich oder verschwinden ganz, die Bedeutung von Arbeit für das eigene Leben kommt auf den Prüfstand.

      Auch die Familie der Zukunft wird in ihrer Berufswahl, -planung und -gestaltung sehr viel flexibler sein müssen als heute. Dies ist in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen gilt es, räumlich und zeitlich das Zusammenleben besser zu koordinieren, allein schon deshalb, weil die Familienmitglieder immer seltener an einem Ort wohnen und arbeiten werden. Gleichzeitig schafft dieses Auseinanderreißen eine Sehnsucht nach Heimat, nach der »Herde«, nach dem gefühlten Ursprung seiner selbst. Das kündigt sich bereits an. Der Normalfall ist schon lange nicht mehr die Drei-Generationen-Familie auf dem Dorf, sondern der entwurzelte, alleinlebende Großstadtmensch. So lebten 2011 ca. 16 Millionen Menschen allein, in Großstädten über 500 000 Einwohnern sind das 29 Prozent der Bevölkerung (aller Altersstufen). In Gemeinden unter 5000 Einwohnern stellen Alleinlebende dagegen nur 14 Prozent.42 Diese Zahlen umfassen nicht nur »Singles« im herkömmlichen Sinn, sondern auch Menschen, die sehr wohl einen Partner haben, der jedoch (aus welchen Gründen auch immer) räumlich getrennt lebt. Vor allem der Trend in den Großstädten dürfte sich weiter verstärken:

       Ist der Mensch der Zukunft ein Großstadt-Single?


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