Cooldown. Markus Vath
gibt Veränderungen, die spürt man sofort. Plötzlicher Regen, Schmerz, eine Trennung – all das hat auf uns eine unmittelbare Wirkung. Und all das erleben wir jeden Tag, immer wieder. Deswegen ist jeder Tag für uns neu, eine Herausforderung, ein Geschenk. Doch es gibt Veränderungen, die wir nicht so schnell bemerken: politische Strömungen, die auf- und abtauchen, gesellschaftliche Bewusstseinslagen, der langsame Niedergang einer Firma. Diese Art der Veränderung vollzieht sich über einen längeren Zeitraum, weniger mit Donner und Blitz, sondern eher mit leisen und dennoch markanten Tönen.
Schleichende Veränderungen bemerken wir nicht sofort
Eine solche langsame, jedoch überall spürbare Veränderung findet gerade in unserer Arbeitswelt statt. Ich nenne sie die »Dritte Transformation«. Die Dynamik der Dritten Transformation hat viele Gesichter: die Aufsplitterung der Beschäftigungsverhältnisse, die Zunahme von Burnout, Depression und anderen seelischen Leiden, die Suche nach Sinn in der eigenen Arbeit, der Anspruch einer neuen, modernen Führung oder die überbordende Kommunikation unserer Tage. In der einen oder anderen Form begegnen wir den Auswirkungen der Dritten Transformation jeden Tag. Wir erleben sie am Arbeitsplatz, lesen entsprechende Nachrichten, führen Diskussionen mit Kollegen und Freunden. Wir halten alle einige Stücke des großen Puzzles in der Hand. Um jedoch zu verstehen, wie weit diese Veränderungen in der Arbeitswelt gehen und wie wir ihnen begegnen sollten, müssen wir das Puzzle zusammensetzen, uns einen Überblick verschaffen.
Genau das versuche ich mit diesem Buch. Im ersten Teil erläutere ich die Dynamik der Dritten Transformation, lege die Puzzleteile zusammen und erkläre, wie sie unser aller (Arbeits-)Leben bestimmt. Im zweiten Teil widme ich mich möglichen Lösungen. Unter dem Begriff INSEL beschreibe ich fünf Faktoren, die auf das Gelingen der Dritten Transformation erheblichen Einfluss haben: Information, Netzwerk, Selbstmanagement, Ethik und Leadership. In all diesen Themen können wir gestaltend wirken, damit uns die Dritte Transformation nicht überwältigt, sondern wir sie bewältigen. Damit sie nicht zur Belastung wird, sondern zur Herausforderung, zur Inspiration. Damit wir nicht nur die Risiken und Gefahren sehen, sondern auch die Chancen des nächsten Schritts – die Lust an der Weiterentwicklung.
Dieses Buch möchte vor allem Antworten bieten. Antworten auf die vielen Reaktionen, die mich auf mein letztes Buch Feierabend hab’ ich, wenn ich tot bin erreicht haben oder auf die vielen Fragen und Hoffnungen meiner Klienten, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte.
Nachdem Mitte 2011 mein Buch zum Thema »Burnout« auf den Markt kam, war das Echo durchweg positiv. Das hat mich sehr gefreut und mich in der Annahme bestärkt, dass die Menschen mehr von uns Fachleuten erwarten als die Verortung von Burnout als rein individuelles Problem. Denn auch die Gesellschaft und die Wirtschaft haben ihren Anteil daran. Viele Leserinnen und Leser waren froh, dass sie nun »Verantwortung abgeben« konnten, denn bislang wurde ihnen eingetrichtert, dass sie selbst schuld seien an ihrem Burnout. Für viele bedeutete es eine enorme Entlastung, den Blick einmal nach außen zu richten und festzustellen, dass auch Organisationen Werte, Prozesse und Strukturen entwickeln, die zu einem individuellen Burnout führen können.
Manche Leser bemängelten, dass ich kein spezielles »Lösungsbuch« geschrieben hatte. Ihr Lob für die sorgfältige Analyse verband sich mit dem Bedauern, nun mit den Fragezeichen alleingelassen zu werden. Dazu muss ich sagen, dass das »Feierabend«-Buch ausdrücklich nicht als klassischer Ratgeber geplant war. Denn für Burnout gab es bereits mehrere Bücher. Ich wollte das Thema Burnout in einen größeren Kontext rücken, wollte die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang stellen und auch die Unternehmen in den Blick und in die Pflicht nehmen. Das ist mir gelungen, und die mediale Diskussion der letzten Zeit verdeutlicht, dass der systemische Aspekt von Burnout in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Ich schrieb das »Feierabend«-Buch aus einem bestimmten Bedürfnis heraus, genauso wie auch das aktuelle Buch. War es damals Unzufriedenheit über den festgefahrenen Stand der Diskussion, geht es mir jetzt um konkrete Lösungen und um die Beantwortung der Fragen: Wie können wir die Dritte Transformation meistern? Wie können wir den menschlichen Geist mit den neuen Technologien versöhnen? Wie können wir eine neue Art von Führung aufbauen? Wie können wir Sinn in unserer Arbeit entdecken und leben? Wie können wir produktiv und gleichzeitig geistig und körperlich gesund bleiben?
Arbeit nach menschlichem Maß gestalten: Dieses Ziel gilt immer noch
Denn jenseits unserer individuellen Persönlichkeit agieren und reagieren wir alle nach bestimmten evolutionär und genetisch geprägten Schemata, Denkmustern und Instinkten. Daher geht es bei einem »Cooldown der Arbeitswelt« nicht nur um die Integration der eigenen Persönlichkeit in ein bestimmtes Umfeld oder um die Verbesserung von Strukturen in der Arbeitswelt.
Es geht auch um die Frage, wie wir unser evolutionäres Menschsein mit der modernen Arbeitswelt versöhnen. Was wir tun können, wenn die Neuropsychologie des Menschen auf Hyperkommunikation und die ausufernde Komplexität moderner Arbeitsplätze trifft. Wie sollen wir uns in modernen Gruppen und Netzwerken zurechtfinden, wenn wir als Herdenwesen von bestimmten Instinkten und Eigenschaften gelenkt werden? Ignorieren wir unsere biologische Grundausstattung, wenn wir unsere Aufgaben strukturieren, wenn wir kommunizieren, sogar wenn wir unser Büro gestalten, dann werden wir irgendwann Schiffbruch erleiden bzw. die nächste Notaufnahme auch einmal von innen sehen.
Damit es dazu nicht kommt, habe ich in diesem Buch einige entsprechende Ideen zusammengefasst und daraus ein Modell geformt, das INSEL-Modell*. Es ist natürlich nicht alles neu. Manches ist schon gedacht und gesagt worden. Das vermindert jedoch nicht dessen grundsätzliche Richtigkeit. Manchmal muss man Dinge einfach mehrmals sagen, bevor sie verstanden und umgesetzt werden. Fragen Sie mal Ihre Kinder (oder Ihre Eltern). Mir geht es darum, Probleme von Organisationen mit einem praktischen Ansatz zu lösen. Hierbei schließe ich sehenden Auges einen Kompromiss: Weder theoretische Erschöpfung noch eine völlig theoriefreie Perspektive halte ich für zielführend. Daher spiegelt das vorliegende Buch meine professionelle Meinung als Psychologe, meine ganz persönliche Erfahrung als (Ex-)Angestellter, Coach und Berater wider sowie einen individuell kreativen Ansatz. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Und natürlich wünsche ich mir, dass Sie einiges für sich umsetzen können, bei sich selbst oder in Ihrer Firma. Schreiben Sie mir, welche Erfahrungen Sie mit der Umsetzung gemacht haben, was Sie gut fanden oder auch nicht so gelungen. Ich freue mich immer, wenn mir Leser Feedback geben, denn man lernt auch als Psychologe und Autor nie aus.
Dieses Buch bietet Lösungen an. Aber kein »one size fits all«
Ich glaube, der moderne Mensch (der ja auch ein arbeitender Mensch ist) hat kein Interesse daran, nur zu jammern und Zustände zu beklagen. Er will Lösungen, die er umsetzen kann – nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Umwelt, in der Wirtschaft oder der Politik. Daher geht das vorliegende Buch über die Analyse von Organisationen hinaus und bietet eine Lösung an. Damit macht man sich angreifbar, weil Lösungen im betrieblichen Umfeld selten eine »one size fits all«-Lösung sein können. Dennoch glaube ich, die INSEL kann einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung in Organisationen leisten. Bertolt Brecht hat gesagt: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Dieses Bonmot, leicht umformuliert, trifft es ganz gut: »Wer kreativ entwickelt, riskiert. Wer nur kritisiert, bleibt stehen.«
* Das INSEL-Modell ist eine eingetragene Wortmarke.
Warum »Transformation«?
Alles Lebendige verändert sich fortwährend
Leben bedeutet Veränderung. Wir werden geboren, werden älter und sterben schließlich – der normale Zyklus des Lebens. So gut wie alle regulativen Vorgänge in der Natur unterliegen diesen Zyklen. »Panta rhei»– alles fließt, wussten schon die alten Griechen. Das Einzige,