Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme
Abend, alte Christine.«
»Ei, schönen guten Abend, Euer Gnaden. Welche Freude, Sie wieder hier zu sehen.«
»Ist die Frau Mahler zu Hause, Christine?«
»In ihrem Stübchen, Euer Gnaden.«
Der Domherr stieg zu dem Stübchen der Frau Mahler hinauf.
Die Frau war allein.
»Guten Abend, Frau Mahler!«
»Ah, Herr Domherr —«
Sie war überrascht, in demselben Augenblick angstvoll gespannt.
»Sie bringen mir Nachricht?« fragte sie.
»Ich komme von Berlin.«
»Und mein Mann?«
»Über ihn wollte ich mit Ihnen sprechen. Hören Sie mir zu. Seit seiner und Gisberts Verhaftung hier war ich zweimal dort. Sie wissen manches darüber ans meinen Briefen an Karoline. Lassen Sie mich dennoch Ihnen im Zusammenhange erzählen. Das erste Mal musste ich zunächst wissen, wie die Sache stand. Ich erfuhr es sehr bald. Es ist eine eigene Koterie, die jetzt in Berlin, in Preußen regiert. Der König ist es nicht; wann regierte überhaupt ein Monarch? Friedrich der Große tat es, Napoleon; aber nicht einmal Maria Theresia; sie hatte ihren Kaunitz über sich. Selbstherrscher nehmen kaum alle hundert Jahre einmal einen Thron ein. Auch der Staatskanzler regiert nicht in Berlin. Er hat sich mit der Koterie abgefunden; er hat seine auswärtigen Angelegenheiten und kümmert sich nicht um das Regiment im Innern. Dieses führt eine kleine Anzahl von Repräsentanten des preußischen Adels, des preußischen, Madame. Wir in Westfalen und vom Rhein, die aus Sachsen, selbst aus Schlesien nehmen keinen Anteil daran, wollen keinen. Der Grund? Ich bin ehrlich. Jener Adel ist uns nicht ebenbürtig, in keiner Weise. Er steht uns nicht hoch genug; wir meinen daher, er könne nicht wirken, wie für einen Staat, der mächtig sein soll, gewirkt werden müsse. Familien, die vor allen Dingen und immer wieder darauf sehen müssen, ihre Söhne als Lieutenants, ja gar als einfache Schreiber bei den Behörden unterzubringen, können keine große Politik verfolgen, keinen Staat groß machen. Solche Leute regieren jetzt in Berlin und suchen durch ihr Regiment in erster Linie dem armen Adel das Lieutenantsbrot zu sichern — daher der Hass gegen die Landwehr und zum Teil die Demagogenverfolgung — und haben nebenbei allerlei Privatsachen auszufechten. Beides hatte Ihren Mann in das Gefängnis gebracht. Madame, der Herr von Schilden gilt jetzt sehr viel in Berlin.«
Die Frau Mahler erblasste; sie sagte nichts.
Der Domherr fuhr fort:
»Das war der Stand der Sache im Allgemeinen und im Einzelnen, wie ich ihn sehr bald erfuhr. Da war auf gewöhnlichem Wege nichts zu machen, namentlich nicht bei der Justiz. Die Gewalt hat überall die Polizei von selbst zur Dienerin; sie ruht dann nicht, bis sie auch die Justiz sich dienstbar gemacht hat. Ich war nach Berlin gegangen, um meinen Neffen und Ihren Mann aus dem Kerker zu befreien. Die Justiz hatte, wie gesagt, keinen Willen. Ich wandte mich an die Koterie selbst, durch Gisbertine. Sie war da, bei ihrem Onkel, dem General von Steinau. Er gehört zu jenem preußischen Adel. Frau Mahler, Sie wissen, wie Gisbertine mit ihrem Manne lebt? Sie wissen auch, dass sie am Tage seiner Verhaftung hier bei mir war?«
»Ich weiß es«, antwortete die Frau.
»Ich ging zu ihr«, fuhr der Domherr fort.
»‘Gisbertine, Dein Mann sitzt in der Hausvogtei’, sagte ich ihr.
‘Ich weiß es’, war ihre Antwort.
‘Du sagst das so ruhig?’
‘Trage ich die Schuld? Du nahmst es ja auf Dein Gewissen.’
‘Und da spricht Dein Gewissen Dich frei?’
‘Ich hatte getan, was ich konnte.’
‘Tue ferner, was Du kannst, Gisbertine.’
‘Was könnte ich?’
‘Ihn befreien. Es kostet Dich ein Wort an Deinen Onkel Steinau, ihn eins an den Polizeiminister oder an den General Taubenheim.’
Sie sann nach, ziemlich lange.
‘Onkel Florens’, sagte sie dann, ‘Gisbert wollte sich gerade wieder mit mir vereinigen, als er verhaftet wurde?’
‘Er suchte Dich mit Schmerzen.’
‘Und ich floh vor ihm, wahrhaftig auch mit Schmerzen. Es ging nicht anders, und es kann auch jetzt nicht anders werden! Und Du wirst zugeben, dass das für uns beide eben keine glückliche Situation ist.’
‘Gott weiß es, Gisbertine.’
‘Man kann sie eigentlich nur ertragen, wenn man muss.’
‘Müsst Ihr sie ertragen?’
‘Gewiss, Onkel. Ich, weil ich will, und Du weißt, ich habe einen festen Willen.’
‘Zähe Launen, Gisbertine.’
‘Das ist Deine Auffassung. Gisbert hat einen gleichen festen Willen, aber die Situation nicht zu ertragen. Da muss für ihn ein äußerer Zwang hinzutreten.’
Ich sprang auf.
‘Gisbertine’, rief ich, ‘bist Du ein herzloses Ungeheuer? Um Deiner nichtsnutzigen Launen willen, damit Du Dein Leben einer pflichtvergessenen Frau in ungestörter Ruhe fortsetzen kannst, darum soll Dein braver Mann elend im Kerker verkümmern?’
Sie blieb ruhig.
‘Ereifere Dich nicht umsonst, Onkel Florens. Was das elende Verkümmern betrifft, so habe ich Fürsorge getroffen, dass Gisbert, mit Ausnahme der Freiheit, alle Bequemlichkeiten hat, die er sich nur auf seinem Schlosse in Westfalen verschaffen könnte. Und in Betreff dieser seiner Freiheit habe ich mich eben jetzt besonnen, dass es nicht schaden könne, wenn er sie wiederbekäme. Ich hatte gedacht, ein Jahr Haft, namentlich wenn er in dem ganzen Jahre von mir nichts höre, werde ihn auf bessere Gedanken über unser Verhältnis bringen, und er werde es aufgeben, mit mir ferner zusammenleben zu wollen.
Aber ich will Dir nachgeben, Onkel Florens. Gisbert soll frei sein, wenn er Dir sein Ehrenwort gibt, mich nicht aufsuchen, mir auch nicht seinen Dank sagen zu wollen.’
Sie sprach die Worte mit ihrer verzweifelten Entschiedenheit; sie sah mich herausfordernd an.
‘Gisbertine, muss ich für Deinen Verstand fürchten?’ fragte ich sie.
‘Wie Du willst, Onkel.’
‘Du hast keine andere Erklärung?’
‘Nein.’
‘Alle Teufel’ — ja, Madame, ich fluchte — ‘es wird wahrhaftig keines Menschen Ehrenwort nötig sein, um eine Närrin, eine herzlose Närrin, wie Du bist, zu meiden, wie man die Pest meidet. Wäre ich Dein Mann, ich flöhe vor Dir bis an das Ende der Welt. Ich gehe zu Gisbert. Wirst Du mir ein Zettelchen geben, dass ich zu ihm gelassen werde?’
‘Der Onkel Steinau wird es Dir schreiben.’
‘Und dann habe ich noch eine Bitte, Gisbertine. Mit Gisbert ist sein Freund Mahlberg verhaftet —’
‘Für ihn kann ich gar nichts tun’, schnitt sie mir jedes fernere Wort ab. ‘Ihn verfolgt nicht die Politik, sondern nur ein persönlicher Hass. Schilden! Er hat ihnen die Mittel für ihre Politik verschafft; dafür müssen sie ihm Mahlberg preisgeben. Fordere nicht das Unmögliche, Onkel.’
Dabei blieb sie. Ich musste von Mahlberg Abstand nehmen.
Aber nur auf diesem Wege.
Ich erhielt das Billett vom General Steinau. Was darin stand, weiß ich nicht; es war versiegelt. Ich ging damit zur Stadtvogtei. Ich übergab es dein Kriminalrat.
Als er es gelesen hatte, sagte er:
‘Sie wünschen Ihren Herrn Neffen zu sprechen?’
‘Ich bitte um eine Unterredung mit ihm.’
‘Ah, Herr Domherr,