Die Chroniken von Narnia - Der König von Narnia (Bd. 2). C. S. Lewis
fand, sie sei noch nie an einem gemütlicheren Plätzchen gewesen. Es war eine kleine, trockene, saubere Höhle aus rötlichem Gestein, mit einem Teppich auf dem Boden und zwei kleinen Stühlen (»Einer für mich und einer für Besuch«, sagte Herr Tumnus), einem Tisch, einer Kommode und einem Kaminsims über dem Feuer, über dem ein Bild von einem alten Faun mit grauem Bart hing. In einer Ecke befand sich eine Tür, die wohl in Herrn Tumnus’ Schlafzimmer führte, dachte Lucy, und an einer Wand stand ein Regal voller Bücher. Lucy betrachtete sie, während er den Teetisch deckte. Sie hatten Titel wie Leben und Briefe des Silenus oder Nymphen und ihr Brauchtum oder Menschen, Mönche und Wildhüter: Eine Untersuchung volkstümlicher Legenden oder Ist der Mensch ein Mythos?
»So, Evastochter!«, sagte der Faun.
Und wirklich, es war ein herrlicher Tee. Es gab für jeden von ihnen ein schönes braunes Ei, weich gekocht, und dann Sardinen auf Toast und dann Toast mit Butter und dann Toast mit Honig und schließlich einen Kuchen mit Zuckerguss. Und als Lucy nichts mehr essen konnte, begann der Faun zu plaudern. Er hatte wunderbare Geschichten über das Leben im Wald zu erzählen. Von den mitternächtlichen Tänzen berichtete er, bei denen die Nymphen, die die Quellen bewohnten, und die Dryaden, die in den Bäumen lebten, herauskamen, um mit den Faunen zu tanzen; von langen Jagden auf den milchweißen Hirsch, der einem Wünsche erfüllen konnte, wenn man ihn fing; von den Festmählern und Schatzsuchen mit den wilden Roten Zwergen in tiefen Schächten und Höhlen weit unter dem Waldboden; und dann vom Sommer, als die Wälder noch grün waren und sie der alte Silenus auf seinem dicken Esel besuchen kam, und manchmal sogar Bacchus selbst, und wie dann in den Bächen Wein floss statt Wasser und sich der ganze Wald wochenlang ohne Pause dem ausgelassenen Vergnügen hingab. »Jetzt freilich ist immerzu Winter«, fügte er betrübt hinzu. Dann nahm er, um sich wieder aufzuheitern, eine seltsame kleine Flöte aus ihrem Kästchen auf der Kommode und begann zu spielen. Und die Melodie, die er spielte, weckte in Lucy den Wunsch, zu weinen und zu lachen und zu tanzen und einzuschlafen, alles zur gleichen Zeit. Stunden mussten vergangen sein, als sie schließlich hochschreckte und sagte:
»Oh, Herr Tumnus – es tut mir so Leid, dass ich Sie unterbrechen muss, Ihr Lied ist sehr schön – aber jetzt muss ich wirklich nach Hause. Ich wollte doch nur ein paar Minuten bleiben.«
»Das geht jetzt leider nicht«, sagte der Faun, legte seine Flöte nieder und schüttelte traurig den Kopf.
»Es geht nicht?«, rief Lucy und sprang erschrocken auf. »Wie meinen Sie das? Ich muss sofort nach Hause. Die anderen wundern sich bestimmt schon, wo ich geblieben bin.« Doch im nächsten Moment fragte sie: »Herr Tumnus! Was ist denn nur los?« Denn die Augen des Fauns waren feucht geworden, und dann begannen die Tränen an seinen Wangen hinabzurinnen, sodass sie schon bald von seiner Nasenspitze tropften. Schließlich bedeckte er das Gesicht mit den Händen und begann laut zu wehklagen.
»Herr Tumnus! Herr Tumnus!«, rief Lucy verzweifelt. »Weinen Sie doch nicht! Was ist denn los? Geht es Ihnen nicht gut? Lieber Herr Tumnus, sagen Sie mir doch, was passiert ist.« Doch der Faun schluchzte nur immer weiter, als breche ihm das Herz. Selbst als Lucy hinüberging, ihre Arme um ihn schlang und ihm ihr Taschentuch lieh, hörte er nicht auf. Er nahm lediglich das Taschentuch und benutzte es ausgiebig. Wann immer es zu nass wurde, um noch von Nutzen zu sein, wrang er es aus, sodass Lucy bald in einer feuchten Pfütze stand.
»Herr Tumnus!«, rief Lucy ihm ins Ohr und schüttelte ihn. »Hören Sie auf! Sofort aufhören! Sie sollten sich schämen, so ein großer starker Faun wie Sie. Warum weinen Sie denn so schrecklich?«
»Ohohoh!«, schluchzte Herr Tumnus, »ich weine, weil ich ein furchtbar böser Faun bin.«
»Ein böser Faun? Das glaube ich nicht«, sagte Lucy. »Ich finde, Sie sind ein sehr netter Faun. Sie sind der netteste Faun, dem ich je begegnet bin.«
»Ohoh – das würdest du nicht sagen, wenn du Bescheid wüsstest«, erwiderte Herr Tumnus, immer noch schluchzend. »Nein, ich bin ein böser Faun. Ich glaube nicht, dass es seit Anbeginn der Welt je einen böseren Faun gegeben hat.«
»Aber was haben Sie denn getan?«, fragte Lucy.
»Ach, mein alter Vater«, sagte Herr Tumnus. »Das ist sein Bild, das da über dem Kaminsims hängt. Er hätte nie im Leben so etwas getan.«
»Was denn?«, fragte Lucy.
»Das, was ich getan habe«, sagte der Faun. »Sich bei der Weißen Hexe zu verdingen. So einer bin ich. Ich stehe im Dienst der Weißen Hexe.«
»Die Weiße Hexe? Wer ist denn das?«
»Nun, sie ist es, die ganz Narnia unter ihrer Fuchtel hat. Sie ist dafür verantwortlich, dass es hier immerzu Winter ist. Immer Winter und niemals Weihnachten; stell dir das vor!«
»Wie schrecklich!«, sagte Lucy. »Aber wofür bezahlt sie Sie denn?«
»Das ist ja das Schlimme«, sagte Herr Tumnus mit einem tiefen Stöhnen. »Ich arbeite für sie als Entführer. Schau mich an, Evastochter. Traust du mir zu, dass ich im Wald ein armes, unschuldiges Kind treffe, eines, das mir nie das Geringste getan hat, und so tue, als wäre ich sein Freund, und es zu mir nach Hause in meine Höhle einlade, nur um es in den Schlaf zu lullen und dann der Weißen Hexe zu übergeben?«
»Nein«, sagte Lucy. »So etwas würden Sie ganz bestimmt nie tun.«
»Aber ich habe es doch getan«, erwiderte der Faun.
»Also«, sagte Lucy ganz langsam (denn sie wollte einerseits die Wahrheit sagen, andererseits aber auch nicht zu hart mit ihm sein), »also, das war wirklich gemein. Aber es tut Ihnen so Leid, dass Sie es sicher nie wieder tun werden.«
»Evastochter, verstehst du denn nicht?«, sagte der Faun. »Ich habe das nicht getan. Ich tue es jetzt, in diesem Moment.«
»Wie meinen Sie das?«, rief Lucy, die ganz blass wurde.
»Du bist das Kind«, sagte Tumnus. »Ich habe Befehl von der Weißen Hexe, sollte ich je im Wald einen Adamssohn oder eine Evastochter sehen, sie zu fangen und ihr zu übergeben. Und du bist die Erste, die ich je getroffen habe. Darum habe ich so getan, als wäre ich dein Freund, und dich zum Tee eingeladen, und die ganze Zeit wollte ich nur abwarten, bis du eingeschlafen bist, und dann gehen und Ihr Bescheid sagen.«
»Aber das werden Sie doch nicht tun, Herr Tumnus«, sagte Lucy. »Das werden Sie doch nicht, oder? Nein, nein, das dürfen Sie wirklich nicht.«
»Aber wenn ich es nicht tue«, sagte er und begann wieder zu weinen, »dann findet sie es bestimmt heraus. Und dann lässt sie mir den Schwanz abschneiden und die Hörner absägen und den Bart ausrupfen und sie wird ihren Zauberstab über meine hübschen gespaltenen Hufe schwingen und sie in scheußliche dicke Pferdehufe verwandeln. Und wenn sie ganz besonders wütend ist, dann wird sie mich in Stein verwandeln, und dann muss ich als Faunsstatue in ihrem schrecklichen Haus herumstehen, bis die vier Throne in Cair Paravel besetzt sind – und wer weiß, wann das geschehen wird oder ob es überhaupt jemals geschehen wird.«
»Das tut mir sehr Leid, Herr Tumnus«, sagte Lucy. »Aber bitte, lassen Sie mich nach Hause gehen.«
»Natürlich«, sagte der Faun. »Natürlich muss ich das. Das sehe ich jetzt ein. Ich wusste ja nicht, wie Menschen sind, bevor ich dir begegnet bin. Natürlich kann ich dich nicht der Hexe ausliefern; nicht jetzt, wo ich dich kennen gelernt habe. Aber wir müssen sofort aufbrechen. Ich bringe dich zurück zur Laterne. Von dort wirst du doch allein den Weg zurück nach Lerenzima und Claidasch-Rank finden?«
»Bestimmt«, sagte Lucy.
»Wir müssen mucksmäuschenstill sein«, sagte Herr Tumnus. »Der Wald wimmelt vor ihren Spionen. Sogar manche Bäume sind auf ihrer Seite.«
Sie standen beide auf und ließen das Teegeschirr auf dem Tisch stehen, und wieder spannte Herr Tumnus seinen Schirm auf und reichte Lucy seinen Arm, als sie hinaus in den Schnee gingen. Der Rückweg war ganz anders als der Weg zur Höhle des Fauns; so schnell sie konnten, huschten sie durch den Wald ohne ein Wort zu sagen, und Herr Tumnus führte sie immer da entlang, wo es am dunkelsten war. Lucy war erleichtert, als sie