Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs
>Die Umrundung des Nordpols
DELIUS KLASING VERLAG
Ich möchte dieses Buch den Menschen
in Nunavut und der Crew der DAGMAR AAEN
widmen, ganz besonders aber meinem
Freund Slava Melin, ohne den es diese Expedition
niemals gegeben hätte.
VORWORT
Das Epizentrum des Abenteuers lag bis Ende der Neunzigerjahre in den Hohen Breiten: »No man’s Land«. Nordpol, Südpol, die Nordwestpassage oder die Nordostpassage hatten längst ihren festen Platz in den Geschichtsbüchern. Nichts für Otto-Normal-Segler, aber mit Dramen und Heldengeschichten gesäumt recht gut erforscht. Grönland und Spitzbergen hingegen waren immerhin erreichbar – und dennoch damals für die meisten Segler als Ziel so abwegig wie eine Reise zum Mond. »Arschkalt« war es dort, nein danke! Man suchte die Wärme, die Sonne, den Sommer. Verleger rümpften die Nase, wenn man ein Buch über eine Reise nach Grönland schreiben wollte. »Wer soll denn das kaufen? Fahr doch mal in die Südsee. Lauschige Ankerplätze und Palmen, das ist es, was die Menschen sehen wollen.«
Ganz unrecht hatten sie nicht. Aber ganz recht eben auch nicht. Denn die Grönlandbücher wurden gekauft – und nicht zu wenige davon. Wie konnte das angehen? Außer uns gab es vielleicht maximal noch eine Handvoll Segler, die es ins Eis zog. Wir waren eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft. Man kannte sich, half sich gegenseitig, tauschte Erfahrungen, Seekarten, Wetterberichte und Konservendosen aus. So ähnlich muss es in den Sechzigerjahren den ersten Weltumseglern ergangen sein. Sie waren eine Avantgarde, lebten die eigenen Träume und die von anderen. Man war Wegbereiter, Pionier und Stellvertreter für diejenigen, die sich eine solche Reise nicht ermöglichen konnten – oder sich nicht trauten.
Seither hat sich viel verändert. ARC-Regatten, GPS und moderne Kommunikationsmittel haben die Angstschwelle vor langen Ozeanpassagen gesenkt und auch für jene erreichbar gemacht, die den Umgang mit Sextanten und HO-Tafeln scheuen. Längst ist eine Reise in die Karibik kein Privileg von Aussteigern mehr. Schön ist es dort trotzdem. Nur die Exklusivität ist dahin.
Auch die Boote sind größer und komfortabler geworden. Eine gut funktionierende Bordheizung wird heute nicht mehr mitleidig belächelt und »Weicheiern« oder »Warmduschern« zugeordnet – sie ist bei vielen Booten heute Standard. Das alles – und eine sich verändernde Natur – ließen plötzlich neue Horizonte auftauchen. Vielleicht war es ja doch nicht so abwegig, eine Reise in die Hohen Breiten zu unternehmen?
Das Ende eines Mythos ist die Beliebigkeit. Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay, die Erstbesteiger des Mount Everest, würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie sie wüssten, welche Menschenlawinen sich alljährlich über den höchsten Berg der Welt wälzen. Dieses Jahr wird ein neuer Besucherrekord erwartet. Höher hinauf geht es nicht auf Erden – das macht den ultimativen Kick aus. Gebucht wird der Gipfel über Reiseveranstalter, möglichst mit Gipfelgarantie und in der Hoffnung, die körperliche Unversehrtheit und die erforderliche Fitness gleich mitgekauft zu haben. Mount Everest »all inclusive«. Da ist er hin, der Mythos.
Eine ähnliche Entwicklung nehmen neuerdings die polaren Routen, allen voran die Nordwestpassage. Der Klimawandel macht es möglich. Was hätte wohl ein John Franklin, ein Roald Amundsen oder auch ein Willy de Roos gedacht, wenn ihnen auf ihrer einsamen Reise durch die Nordwestpassage ein Schiff wie die CRYSTAL SERENITY begegnet wäre? Das Passagierschiff ist stolze 250 Meter lang und 32 Meter breit. Es bietet rund 1.100 Passagieren sowie 655 Crewmitgliedern Unterkunft. Auf den diversen Decks werden erlesene Speisen und Weine gereicht, und durch die großen Panoramascheiben lässt man lässig die felsigen Küsten der Nordwestpassage passieren. Derjenige, der sich den Spaß leisten kann, schwelgt im Luxus und lässt sich in klimatisierten Räumen eiskalte Schauder über den Rücken laufen, während ihm Lektoren sachkundig von den Dramen im ewigen Eis erzählen.
»Reisen ins Eis waren stets mit einem hohen Risiko behaftet. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das haben wir akzeptiert – sozusagen als Eintrittskarte in eine Welt voller Wunder.«
Die Nordwestpassage weich gespült, bei schaurig schönen Geschichten über Skorbut und Kannibalismus, über Erfrierungstod und Verzweiflung bei Kaviar und Champagner. Die CRYSTAL SERENITY eröffnet eine neue Dimension, ein neues Zeitalter. In einem Fernsehinterview räumt der Kapitän des Liners ganz gelassen ein, dass sein Schiff überhaupt keine Eisklasse habe. Das Schiff bricht mit allen Konventionen. Im Sommer 2017 ist eine erneute Passage geplant.
Als wir nach 1993 im Jahr 2004 zum zweiten Mal durch die Nordwestpassage fuhren, hatte sich bereits vieles verändert. Es war wie eine Zeitreise. Der Klimawandel und dessen Auswirkungen waren in aller Munde. Im Jahr 2002 hatten wir die Nordostpassage auf der russischen Seite ohne große Probleme passiert und damit als erstes Schiff den Nordpol aus eigener Kraft komplett umrundet. Dafür hatten wir stattliche vier Anläufe gebraucht. Und auch auf dem anschließenden Weg durch die Nordwestpassage mussten wir noch auf halben Weg überwintern: Das Eis war zu mächtig. Außer uns überwinterten noch drei weitere Yachten in Cambridge Bay. Das erschienen uns schon irritierend viele zu sein, zumal zwei der Yachten von Bauart und Ausstattung her eher in die Südsee passten. Früher kannte ich die Namen jedes Bootes und jedes Skippers, der versucht hatte, die Passage zu durchfahren. Inzwischen habe ich aufgehört zu zählen. Es sind einfach zu viele geworden. Als wir 2004 die Nordwestpassage mit Kurs Grönland hinter uns ließen, waren wir bereits das 98. Schiff, dem das gelungen war – seit der ersten Durchquerung von Amundsen 1903–1906. Am Ende der Navigationsperiode 2016 hatten insgesamt 255 Schiffe die Passage bewältigt – also 157 Schiffe in 12 Jahren!
Längst geht es nicht mehr um das, was früher das alleinige Maß aller Dinge war – heil durchzukommen. Es geht heute um neue Routen, um Geschwindigkeitsrekorde, um das kleinste Schiff, das schnellste oder sonderbarste Gefährt.
Möglich geworden sind diese Passage durch das allgemeine Tauwetter in der Arktis. Nur wenn sich ein wenig mehr Eis in der Passage hält als in den Jahren zuvor, verspürt man noch einen Hauch der alten Nordwestpassage, des ansonsten verblichenen Mythos. Dann gerät der Versuch schnell zur Hybris – Schluss mit lustig! Was viele unterschätzen: Die Passage ist auch ohne Eis eine echte Herausforderung. Sie ist einige tausend Meilen lang, das Wetter kann – besonders im September – sehr stürmisch sein. Und vollkommen verschwunden ist das Eis natürlich nicht. Irgendwo lauern immer wieder mehr oder weniger dichte Eisfelder, die mit dem Wind und der Strömung hin- und hertreiben. Mit dem Erreichen der Beringsee wähnen sich einige bereits auf der sicheren Seite. Aber dieses Meer ist immer gut für eine böse Überraschung. The »Cradle of the Storms – die Wiege der Stürme« werden die Aleuten ein wenig martialisch genannt. Der Name kommt nicht von ungefähr. Sichere Häfen gibt es mit Ausnahme von Dutch Harbour im Süden der Beringsee und Cambridge Bay mitten in der kanadischen Arktis so gut wie keine. Die logistische und auch die mentale Herausforderung für den Segler ist enorm. Man sollte sich sehr genau prüfen, ob man sich ihr gewachsen fühlt. Nicht wenige Versuche von Seglern enden, bevor die eigentliche Reise begonnen hat.
Die Umrundung des Nordpols bleibt trotz Klimawandel eine echte Herausforderung für Material und Segler. Deshalb sollte man mit dem gebührenden Respekt an die Aufgabe herangehen. Trotz moderner Ausrüstung und akkurater Wetter- und Eisprognosen reist das Risiko gewissermaßen als blinder Passagier immer mit. Mein Interesse galt schon immer den Polarregionen. Sie waren einer der Gründe, weshalb ich mir ein Schiff wie die DAGMAR AAEN zugelegt habe. Ich wollte ein eisgängiges Schiff haben, wollte unabhängig sein, im Polareis überwintern und vom eingefrorenen Schiff aus Landexpeditionen unternehmen. Meine Motivation war eine andere, als die der meisten Segler, die heute durch die NWP oder in Teilen auch durch die NOP fahren. Ich war gekommen um zu bleiben – und nicht um möglichst schnell wieder in wärmere Gefilde zu entschwinden. Für diese Art zu segeln, im Eis zu leben und zu überleben, hatten wir jahrelang Erfahrungen gesammelt. Eis und Kälte waren kein fremdes Medium für uns. Wir fühlten uns wohl, so wie es war – trotz Risiko und Kälte. Reisen ins Eis waren stets mit einem hohen Risiko behaftet. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das haben wir akzeptiert – sozusagen als Eintrittskarte in eine Welt voller Wunder. Es war die Paarung zwischen seglerischer Herausforderung,