Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs
Durchfahrt in nur einer Navigationsperiode schaffen können. So aber blieben sie – nur wenige Meilen vom offenen Wasser entfernt – an der Tschukotka-Halbinsel liegen und mussten den Winter dort verbringen. Da es keine Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt gab, war die Überfälligkeit der Expedition Anlass zu Spekulationen. Der amerikanische Zeitungsbaron Bennet ließ an der Westküste der USA die JEANETTE ausrüsten, die unter Leitung von De Long Richtung Beringstraße und Polarmeer segeln sollte, um nach der VEGA zu suchen.
Während die VEGA problemlos den arktischen Winter überstand, wurde die JEANETTE vom Eis eingeschlossen. Diese Expedition sollte sich zu einem der größten Dramen in der Polargeschichte entwickeln. Das Schiff wurde nach monatelanger Drift schließlich vom Packeis zerstört. De Long und seine Männer flüchteten in drei Rettungsbooten über die Neusibirischen Inseln und erreichten schließlich an unterschiedlichen Stellen das Lenadelta. Das eine Boot landete in unmittelbarer Nähe des heutigen Ortes Tiksi. Die erschöpfte Bootsbesatzung wurde von Einheimischen gerettet. De Long und seine Bootsbesatzung hingegen landeten weiter im Norden des Deltas. De Longs Tagebuchaufzeichnungen über das langsame Sterben stehen an Dramatik den letzten Tagebuchseiten von Robert Falcon Scott in der Antarktis in nichts nach. Immerhin wurden die Leichen sowie die Aufzeichnungen und Tagebücher entdeckt und die sterblichen Überreste bestattet. Das dritte Boot hingegen wurde nie wieder gesichtet.
Wrackteile der JEANETTE wurden quer über das Polarbecken bis nach Grönland getrieben.
Während De Long und seine Leute ihrem Ende entgegendrifteten, gelang es Nordenskiöld im darauf folgenden Sommer, durch die Beringstraße zu segeln und ohne weitere Probleme auf der Südroute zurück nach Schweden zu gelangen. Währenddessen wurden Wrackteile der JEANETTE quer über das Polarbecken getrieben und von der Strömung letztlich an der Südwestküste Grönlands wieder freigegeben, wo sie schließlich von Jägern entdeckt und eindeutig identifiziert werden konnten.
Mit dieser Entdeckung war Fridtjof Nansens Plan geboren, mit einem eigens dafür gebauten Schiff die Polardrift zu untersuchen. Von dem norwegischen Bootsbauer Colin Archer wurde die FRAM gebaut, ein Schiff, das in Bauweise und Robustheit einzigartig war. Mit der FRAM segelte Nansen 1893–1896 bis zu den Neusibirischen Inseln, ließ sich dort gezielt einfrieren und mit der Drift nach Norden treiben. Niemals zuvor hat ein solideres Schiff die polaren Gewässer befahren als die FRAM.
Trotzdem gab es im Verlauf der Expedition Momente, in denen die Expeditionsmannschaft daran zweifelte, ob der Rumpf dem gewaltigen Druck des Packeises standhalten würde. Er tat es – als erstes Schiff überhaupt – und wurde bekanntermaßen in den späteren Jahren auf anderen Expeditionen erfolgreich eingesetzt, unter anderem von Roald Amundsen für seine Südpol-Expedition.
Die russische Revolution schließlich ließ ein anderes Zeitalter aufziehen. In spektakulären Expeditionen wurde der Norden mit immer moderner und stärker werdenden Eisbrechern, ausgerüstet mit Dampfmaschinen, angegangen. Auch hier gab es Tragödien, Schiffsuntergänge und Helden, die den neuen Machthabern als Aushängeschild dienten. Jede einzelne dieser Expeditionen, ob von Nordenskiöld oder die Fahrt des Eisbrechers SIBIRIJAKOW im Jahr 1932, der die Passage erstmals in einer Navigationsperiode bewältige, sind in umfangreichen Büchern dokumentiert worden. Wenig dagegen findet sich über die vielen Pioniere, die häufig genug die Wissensgrundlage für die großen staatlichen Expeditionen gelegt haben: die Walfänger und Kaufleute.
Der deutsche Kapitän Eduard Dallmann beispielsweise ist einer der engagierten Kapitäne gewesen, der im Auftrag von Kaufleuten und Reedern schon Jahre vor Nordenskiölds Durchfahrung einige Fahrten zum Ob und Jenissei unternommen und dabei wirtschaftliche Kontakte geknüpft hatte. So gesehen war er seiner Zeit weit voraus. Zusammen mit Karl Koldewey stellt er für mich auch im internationalen Vergleich einen der ganz großen Polarfahrer dar. Dallmann wie auch Koldewey waren Seeleute durch und durch. Auf See an Bord eines Schiffes fühlten sie sich am wohlsten, die Öffentlichkeitsarbeit überließen sie anderen. Ihnen ging es nicht um nationales oder persönliches Prestige, sondern sie waren im wahrsten Sinne des Wortes Pioniere und Wegbereiter für Kaufleute, die ihren Routen folgen sollten.
Der merkantile Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Nordostpassage. An seiner Peripherie tummelten sich über Jahrhunderte hinweg immer wieder Expeditionen, von denen jede für sich ein episches Drama wie Shackletons ENDURANCE-Expedition war. Aber richtungsweisend waren die Männer wie Dallmann, der 1877 in nur einem Sommer eine Reise von Bremen zum Jenissei und zurück unternahm. Oder der Engländer Wiggins, unter dessen Leitung 1878 und 1888 insgesamt 14 große Dampfer – beladen mit Handelsware – den Ob und den Jenissei erreichten, sowie Jonas Lied, ein norwegischer Reeder, der in den Anfängen des 20. Jahrhunderts mit seiner Siberian Steamship, Manufacturing and Trading Ltd. die wirtschaftliche Bedeutung des sibirischen Nordens erkannte.
Mit einer Flotte von 60 Dampfern und 170 Lastkähnen erschloss Lied die Flüsse Ob und Jenissei, die ihm als Autobahn ins Innere Russlands dienten. In den Flussmündungen wurden Handelsniederlassungen gegründet. Die florierenden Geschäfte, von Lied clever gemanagt, entwickelten sich trotz der widrigen klimatischen Verhältnisse hervorragend. Holz aus der sibirischen Taiga, Felle und selbst Butter und Fischkonserven wurden aus Sibirien exportiert und im Gegenzug Industrieanlagen und westliche Handelsgüter importiert. Wasserkraftwerke, Sägewerke und Fischverarbeitungsbetriebe wurden eingerichtet, und wäre nicht die Revolution von 1917 gekommen, die wie ein überdimensionierter Wirbelsturm von einem Tag zum anderen alle Investitionen und das Engagement hinwegfegte, hätte die Entwicklung Sibiriens heute einen völlig anderen Stand erreicht. Zwar betraf die Anreise zum Ob und Jenissei erst die westliche und leichter befahrbare Hälfte des Nördlichen Seeweges, aber einfach war es dennoch nicht. Die von den Seeleuten ehrfurchtsvoll als Eiskeller bezeichnete Karasee war alles andere als einfach zu passieren. Insgesamt betrug die Navigationsperiode nur wenige Wochen oder Monate.
Von 1872 bis 1938 wurden dennoch rund 470 Reisen von Handelsschiffen zum Ob und Jenissei durchgeführt. Gab es anfangs auch zahlreiche Schiffsverluste, so besserte sich die Situation etwa von 1915 an. Die Schiffe wurden stabiler und mit größeren, solideren Dampfmaschinen und Schrauben ausgestattet, sodass sie den Eismassen besser widerstehen konnten. Hinzu kam, dass entlang des sibirischen Festlandes von 1910 an auf russische Initiative hin insgesamt 16 Beobachtungsstationen eingerichtet wurden, um Wetter- und Eisbeobachtungen durchzuführen. Ab 1920 gab es sogar Funkbrücken, die die aktuellen Eislagen an die Schiffe weitermorsten. 1932 wurde in Moskau die Hauptverwaltung des Nördlichen Seewegs eingerichtet, eine Behörde, die bis zum heutigen Tag überdauert hat.
Dem Eisbrecher SIBIRIJAKOW unter der Leitung von Otto Schmidt, einem deutschstämmigen Russen, gelang es erstmals im Jahre 1932, den Nördlichen Seeweg in nur 60 Tagen zu durchfahren. Damit war ein neues Zeitalter angebrochen. Während des Ersten Weltkriegs wurden diese Eisbrecher eingesetzt, um die Konvois der Alliierten in die Häfen des Weißen Meeres zu geleiten.
Auch wenn es immer wieder zu Rückschlägen kam und Schiffe wie beispielsweise die TSCHELJUSKIN unter dramatischen Umständen in den Eispressungen zerstört wurden, so bekamen die Sowjets den Nördlichen Seeweg aller klimatischen Widrigkeiten zum Trotz mehr und mehr in den Griff. Zusätzliche Wetterstationen, Lotsendienste, immer stärkere Eisbrecher und später der Einsatz von Flugzeugen ließen die Effektivität der Reisen drastisch ansteigen.
Während des Zweiten Weltkrieges sollte der Nördliche Seeweg mit einer wiederum verstärkten Eisbrecherflotte eine noch größere Bedeutung bekommen. Allein 1942 wurden 44 Schiffe mit alliiertem Kriegsmaterial von Alaska aus durch den Nördlichen Seeweg nach Murmansk geleitet. Während im Nordatlantik die verheerenden Geleitzugschlachten mit furchtbaren Verlusten auf beiden Seiten tobten, war der Nördliche Seeweg mit wenigen Ausnahmen vor dem Zugriff der deutschen Luftwaffe und der Kriegsflotte geschützt. Damit wurde die militärstrategische Rolle des Nördlichen Seeweges erkannt. Sogar ein deutscher Hilfskreuzer, die KOMET unter Kapitän Eyssen, durchfuhr zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes 1940 in nur einer Saison die Passage. Unterstützt wurde er dabei von russischen Eisbrechern. Danach gelang es nur noch dem deutschen Schlachtschiff ADMIRAL SCHEER 1942 bis zu der Ortschaft Dikson vorzustoßen, um im Rahmen eines Überraschungsangriffs den Ort zu beschießen und damit die Geleitzüge durch die Passage zu stören.
Dessen ungeachtet wuchs die Bedeutung des Nördlichen Seeweges