Unsichtbare Bande: Erzählungen. Selma Lagerlof
Polka klang.
In einem Nu stand Peter Nord mitten im Saale. Alle feinen Herrenmanieren waren von ihm abgeglitten. Er war nicht mehr auf dem Rathausballe, sondern daheim in der Scheune, beim Mittsommernachtstanz. Er ging mit krummen Knien und zog den Kopf zwischen die Schultern. Ohne aufzufordern, schlang er einer Dame den Arm um den Leib und riß sie mit sich. Und dann begann er Polka zu tanzen. Das Mädchen folgte ihm halb widerwillig, beinahe geschleift. Sie war nicht im Takt, sie wußte gar nicht, was dies für ein Tanz war. Aber plötzlich ging alles wie von selbst. Das Geheimnis des Tanzes offenbarte sich ihr. Die Polka trug sie, hob sie empor, sie hatte Flügel an den Füßen, sie wurde so leicht wie Luft. Es war ihr, als flöge sie dahin. Denn die Wermlandpolka ist der wunderbarste Tanz. Sie verwandelt die schwerfüßigen Söhne der Erde. Lautlos schweben sie auf zolldicken Sohlen über ungehobelte Scheunendielen. Sie wirbeln umher, so leicht wie das Laub im Herbststurm. Diese Polka ist weich, hurtig, still, gleitend. Ihre edlen, maßvollen Bewegungen befreien die Körper, so daß sie sich leicht, elastisch schwebend fühlen.
Während Peter Nord seinen heimatlichen Tanz tanzte, wurde es still im Ballsaal. Anfangs lachte man, aber allmählich dämmerte es allen auf, daß dies Tanz war, dieses Dahinschweben in gleichmäßigen raschen Wirbeln, ja wahrlich, wenn irgendetwas Tanz war, so war es dies.
Plötzlich bemerkte Peter Nord mitten in seinem Taumel, daß rings um ihn eine wunderliche Stille herrschte. Er blieb plötzlich stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Keine schwarze Scheunendiele, keine laubgeschmückten Wände, keine hellblaue Sommernacht, keine muntre Bauerndirne war in der Wirklichkeit zu erblicken, in die er jetzt schaute. Er schämte sich und wollte sich fortschleichen.
Aber schon war er umringt und bestürmt. Die jungen Damen drängten sich um den Ladenjungen und riefen: „Ach tanzen Sie mit uns, tanzen Sie mit uns!“
Sie wollten diese Polka lernen. Alle wollten sie sie lernen. Der Ball kam ganz aus dem Geleise und war jetzt wie eine Tanzschule. Alle versicherten, daß sie bisher gar nicht gewußt hätten, was tanzen heiße. Und Peter Nord ward ein großer Mann an diesem Abend.
Er mußte mit allen den feinen Damen tanzen, und sie waren über die Maßen freundlich gegen ihn. Er war ja nur ein Junge und übrigens solch ein fröhlicher Tollkopf. Man konnte nicht anders als ihn verziehen.
Da fühlte Peter Nord, daß dies das Glück war. Der Günstling der Damen zu sein, es wagen, mit ihnen zu sprechen, sich mitten in dem strahlenden Lichte zu bewegen, gefeiert und verhätschelt zu werden, ja gewiß, das war das Glück.
Und als der Ball zu Ende war, war er zu glücklich, um selbst darüber betrübt zu sein. Er hatte das Bedürfnis, heimzukommen, um in Ruhe alles das zu überdenken, was ihm an diesem Abend widerfahren war.
Halfvorson war unverheiratet, aber er hatte eine Nichte im Hause, die im Kontor arbeitete. Sie war arm und von Halfvorson abhängig, aber sie benahm sich recht hochmütig gegen ihn und gegen Peter Nord. Sie hatte viele Freunde unter den angeseheneren Leuten der Stadt und wurde in Familien eingeladen, in die Halfvorson nie kommen konnte. Sie und Peter Nord gingen zusammen von dem Balle nach Hause.
„Wissen Sie, Nord,“ fragte Edith Halfvorson, „daß Halfvorson wegen verbotnen Branntweinhandels angeklagt werden wird? Sie könnten mir wirklich sagen, Nord, wie es sich mit dieser Sache verhält.“
„Ach, das ist gar nicht der Mühe wert, solch ein Aufhebens davon zu machen,“ sagte Peter Nord.
Edith seufzte. „Natürlich wird etwas daran sein. Und dann gibt es Prozeß und Geldstrafen und Schande ohne Ende. Ich möchte so gerne wissen, wie die Sache steht.“
„Es ist wohl am besten, nichts zu wissen,“ sagte Peter Nord.
„Sehen Sie, Nord, ich will in die Höhe kommen,“ fuhr Edith fort, „und Halfvorson mit hinaufziehen, aber er plumpst mir immer wieder hinunter. Ganz unversehens tut er etwas, was auch mich unmöglich macht. Ich sehe ihm jetzt an, daß er etwas im Schilde führt. Wissen Sie nicht, Peter, was es ist? Es wäre gut, es zu wissen.“
„Nein,“ sagte Peter Nord, nicht ein Wort mehr konnte er sagen. War es menschlich, mit ihm, der von seinem ersten Balle kam, von derlei zu sprechen?
Hinter dem Laden befand sich ein kleiner Verschlag für den Ladenjungen. Da saß Peter Nord von heute und ging mit Peter Nord von gestern ins Gericht. Wie blaß und feige der Kerl aussah. Jetzt sollte er hören, was er war. Ein Dieb und ein Geizhals. Kannte er das siebente Gebot? Von Rechts wegen sollte er eine Tracht Prügel haben. Ja, das sollte er.
Gott sei gedankt und gelobt, daß er ihn auf den Ball geführt und seinen Sinn geändert hatte. Pfui, wie häßlich es in ihm ausgesehen hatte, aber jetzt war alles anders. Als ob der Reichtum es wert wäre, daß man ihm Gewissen und Seelenruhe opferte?! Als ob er soviel wert wäre wie eine weiße Maus, wenn man dabei nicht vergnügt sein durfte! Er klaschte in die Hände und rief jubelnd: „Frei, frei, frei!“ Nicht die leiseste Sehnsucht, den Fünfzigkronenschein zu besitzen, war mehr in seiner Seele. Wie gut war es doch, glücklich zu sein.
Als er sich niedergelegt hatte, nahm er sich vor, Halfvorson zeitig am nächsten Morgen die fünfzig Kronen zu zeigen. Dann aber bekam er Angst, daß der Krämer am nächsten Tag vor ihm in den Laden kommen, den Schein suchen und ihn finden könnte. Dann würde er wohl glauben, daß Peter Nord ihn versteckt hatte, um ihn zu behalten. Dieser Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Er versuchte sich ihn aus dem Sinne zu schlagen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte nicht einschlafen. Da stand er auf, schlich sich leise in den Laden und tastete nach dem Fünfzigkronenschein. Dann schlummerte er süß ein mit der Banknote unter dem Kopfkissen.
Eine Stunde später wurde er geweckt. Ein greller Lichtschein fiel ihm blendend in die Augen, eine Hand griff suchend unter sein Kopfkissen und eine grollende Stimme zankte und fluchte.
Ehe noch der Knabe recht wach war, hatte Halfvorson schon die Banknote in der Hand und zeigte sie zwei Frauen, die in der Tür zum Verschlage standen. „Seht ihr, daß ich recht hatte,“ sagte Halfvorson, „seht ihr, daß es der Mühe wert war, euch zu wecken und als Zeuginnen mitzunehmen. Seht ihr, daß er ein Dieb ist!“
„Nein, nein, nein,“ schrie der arme Peter Nord. „Ich wollte nicht fehlen. Ich habe den Schein ja nur aufgehoben.“
Halfvorson hörte ja nichts. Die beiden Frauen standen mit dem Rücken zum Verschlage, wie fest entschlossen, weder zu hören noch zu sehen.
Peter Nord hatte sich im Bette aufgesetzt. Er sah mit einem Male jämmerlich schwach und klein aus. Seine Tränen strömten. Er jammerte laut.
„Onkel,“ sagte Edith, „er heult.“
„Laß ihn heulen!“ sagte Halfvorson, „laß ihn nur heulen!“ Und er trat näher und sah den Knaben an. „Kann mir schon denken, daß du heulst, mein Lieber,“ sagte er. „Aber das verfängt bei mir nicht.“
„Oh, oh!“ rief Peter Nord, „ich bin kein Dieb. Ich habe den Schein nur zum Spaß versteckt – um Sie zu ärgern. Ich wollte Sie wegen der Mäuse strafen. Ich bin kein Dieb. Kann niemand mich hören? Ich bin kein Dieb.“
„Onkel,“ sagte Edith, „hast du ihn jetzt genug gequält, können wir vielleicht gehen und uns niederlegen?“
„Ich kann mir schon denken, daß sich das greulich anhört,“ sagte Halfvorson, „aber da läßt sich nichts machen.“ Er war ganz munter, förmlich ausgelassen. „Ich habe lange ein Auge auf dich gehabt, mein Lieber,“ sagte er zu dem Knaben. „Immer hattest du irgend etwas wegzustecken, wenn ich in den Laden kam. Aber jetzt bist du ertappt. Jetzt habe ich Zeugen gegen dich, und jetzt hole ich die Polizei.“
Der Junge stieß einen gellenden Schrei aus. „Kann mir denn niemand helfen, kann mir denn niemand helfen?“ rief er. Aber nun war Halfvorson schon verschwunden, und die Frau, die dem Haushalt vorstand, kam auf ihn zu.
„Geschwind, aufgestanden und in die Kleider, Peter Nord! Halfvorson holt die Polizei und indessen kannst du dich davonmachen. Das Fräulein geht wohl in die Küche und packt dir ein bißchen Proviant ein. Ich will unterdessen