Die Wahrheit kann warten. Arthur Schopenhauer

Die Wahrheit kann warten - Arthur  Schopenhauer


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in jeder Erklärung, ist also beschränkt auf Bestimmungen des Raumes und der Zeit. Nun sind aber diese beiden, samt ihrer ganzen Gesetzlichkeit, uns a priori bewusst, sind daher bloße Formen unseres Erkennens und gehören ganz allein unseren Vorstellungen an. Ihre Bestimmungen sind also im Grunde subjektiv und betreffen nicht das rein Objektive, das von unserer Erkenntnis Unabhängige, das Ding an sich selbst. Sobald wir aber selbst in der Mechanik weiter gehen als das rein Mathematische, sobald wir zur Undurchdringlichkeit, zur Schwere, zur Starrheit oder Fluidität oder Gaseität kommen, stehen wir schon bei Äußerungen, die uns ebenso geheimnisvoll sind wie das Denken und Wollen des Menschen, also beim direkt Unergründlichen: Denn ein solches ist jede Naturkraft. Wo bleibt nun also jene Materie, die ihr so intim kennt und versteht, dass ihr alles aus ihr erklären, alles auf sie zurückführen wollt? – Rein begreiflich und ganz ergründlich ist immer nur das Mathematische, weil es das im Subjekt, in unserem eigenen Vorstellungsapparat Wurzelnde ist. Sobald aber etwas eigentlich Objektives auftritt, etwas a priori nicht Bestimmbares, da ist es auch sofort in letzter Instanz unergründlich. Was überhaupt Sinne und Verstand wahrnehmen, ist eine ganz oberflächliche Erscheinung, die das wahre und innere Wesen der Dinge unberührt lässt. Das wollte Kant. Nehmt ihr nun im Menschenkopf, als Deus ex machina, einen Geist an, so müsst ihr, wie gesagt, auch jedem Stein einen Geist zugestehen. Kann hingegen eure tote und rein passive Materie als Schwere streben oder als Elektrizität anziehen, abstoßen und Funken schlagen, so kann sie auch als Gehirnbrei denken. Kurz, jedem angeblichen Geist kann man Materie, aber auch jeder Materie Geist unterlegen, woraus sich ergibt, dass der Gegensatz falsch ist. […]

      § 93 Das Leben lässt sich definieren als der Zustand eines Körpers, darin er, unter beständigem Wechsel der Materie, seine ihm wesentliche (substanzielle) Form allezeit behält. – Wollte man mir einwenden, dass auch ein Wasserstrudel oder Wasserfall seine Form unter stetem Wechsel der Materie behält, so wäre zu antworten, dass bei diesen die Form durchaus nicht wesentlich, sondern, allgemeine Naturgesetze befolgend, durch und durch zufällig ist, indem sie von äußeren Umständen abhängt, durch deren Veränderung man auch die Form beliebig ändern kann, ohne dadurch das Wesentliche anzutasten.

      § 99 Mir hat die Ansicht gar sehr eingeleuchtet, dass die akuten Krankheiten, von einigen Ausnahmen abgesehen, nichts anderes sind als Heilungsprozesse, welche die Natur selbst einleitet, zur Abstellung irgendeiner im Organismus eingerissenen Unordnung; zu welchem Zwecke nun die vis naturae medicatrix8, mit diktatorischer Gewalt bekleidet, außerordentliche Maßregeln ergreift, und diese machen die fühlbare Krankheit aus. Den einfachsten Typus dieses so allgemeinen Hergangs liefert uns der Schnupfen. Durch Erkältung ist die Tätigkeit der äußeren Haut paralysiert und hierdurch die so mächtige Exkretion mittels der Exhalation9 aufgehoben, welches den Tod des Individuums herbeiführen könnte. Da tritt alsbald die innere Haut, die Schleimhaut, für jene äußere vikarierend10 ein: Hierin besteht der Schnupfen, eine Krankheit. Offenbar ist aber diese bloß das Heilmittel des eigentlichen, aber nicht fühlbaren Übels, des Stillstandes der Hautfunktion. Diese Krankheit, der Schnupfen, durchläuft nun dieselben Stadien wie jede andere: den Eintritt, die Steigerung, die Akme11 und die Abnahme. Anfangs akut, wird sie allmählich chronisch und hält nun als solche an, bis das fundamentale, aber selbst nicht fühlbare Übel, die Lähmung der Hautfunktion, vorüber ist. Daher ist es lebensgefährlich, den Schnupfen zurückzutreiben. Derselbe Hergang macht das Wesen der allermeisten Krankheiten aus, und diese sind eigentlich nur das Medikament der vis naturae medicatrix. […]

      8 Die heilende Kraft der Natur.

      9 Ausscheidung mittels Ausdünstung.

      10Stellvertretend.

      11Höhepunkt.

      ZUR ETHIK

      § 108 Physikalische Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben, aber die innere fehlt ihnen. Diese ist das Vorrecht der intellektuellen und moralischen Wahrheiten, welche die höchsten Stufen der Objektivation des Willens zum Thema haben, während jene die niedrigsten. Zum Beispiel wenn wir Gewissheit darüber erlangen, dass, wie man jetzt nur mutmaßt, die Sonne am Äquator Thermoelektrizität, diese den Magnetismus der Erde und dieser das Polarlicht verursacht, so wären diese Wahrheiten von vieler äußeren Bedeutsamkeit, an innerer aber arm. Beispiele von dieser letzteren hingegen liefern nicht nur alle hohen und wahren Philosopheme, sondern auch die Katastrophe jedes guten Trauerspiels, ja auch die Beobachtung menschlichen Handelns in den extremen Äußerungen der Moralität und Immoralität desselben, also der Bosheit und Güte: Denn in allen diesen tritt das Wesen hervor, dessen Erscheinung die Welt ist, und legt, auf der höchsten Stufe der Objektivation, sein Inneres zutage.

      § 109 Dass die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat. Dennoch und allen Religionen zum Trotz, welche sämtlich das Gegenteil davon behaupten und solches in ihrer mythischen Weise zu begründen suchen, stirbt jener Grundirrtum nie ganz auf Erden aus, sondern erhebt immer, von Zeit zu Zeit, sein Haupt von Neuem, bis ihn die allgemeine Indignation abermals zwingt, sich zu verstecken. […]

      § 114 Immer von Neuem fühlt sich, wer unter Menschen lebt, zu der Annahme versucht, dass moralische Schlechtigkeit und intellektuelle Unfähigkeit eng zusammenhängen, indem sie direkt einer Wurzel entsprössen. […] Jener Anschein, der bloß daraus entspringt, dass man beide so gar oft beisammen findet, ist gänzlich aus dem sehr häufigen Vorkommen beider zu erklären, infolgedessen ihnen leicht begegnet, unter einem Dache wohnen zu müssen. Dabei ist aber nicht zu leugnen, dass sie einander zu gegenseitigem Vorteil in die Hände spielen, wodurch denn die so unerfreuliche Erscheinung zustande kommt, welche nur zu viele Menschen darbieten, und die Welt geht, wie sie geht. Namentlich ist der Unverstand dem deutlichen Sichtbarwerden der Falschheit, Niederträchtigkeit und Bosheit günstig, während die Klugheit diese besser zu verhüllen versteht. Und wie oft hindert andererseits die Perversität des Herzens den Menschen, Wahrheiten einzusehen, denen sein Verstand ganz wohl gewachsen wäre.

      Jedoch, es erhebe sich keiner. Wie jeder, auch das größte Genie, in irgendeiner Sphäre der Erkenntnis entschieden borniert ist und dadurch seine Stammverwandtschaft mit dem wesentlich verkehrten und absurden Menschengeschlecht beurkundet, so trägt auch jeder moralisch etwas durchaus Schlechtes in sich, und selbst der beste, ja edelste Charakter wird uns bisweilen durch einzelne Züge von Schlechtigkeit überraschen, gleichsam, um seine Verwandtschaft mit dem Menschengeschlecht, unter welchem jeder Grad von Nichtswürdigkeit, ja Grausamkeit, vorkommt, anzuerkennen. Denn gerade kraft dieses Schlechten in ihm, dieses bösen Prinzips, hat er ein Mensch werden müssen. Und aus demselben Grunde ist überhaupt die Welt das, als was mein treuer Spiegel derselben sie gezeigt hat. […]

      Daher eben kommen die vierbeinigen Freundschaften so vieler Menschen besserer Art: Denn freilich, woran sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann? – Ist doch unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade. Man trifft daselbst Ritter, Pfaffen, Doktoren, Advokaten, Priester, Philosophen und was nicht alles an! Aber sie sind nicht, was sie vorstellen: Sie sind bloße Masken, unter welchen, in der Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken. Doch nimmt auch wohl einer die Maske des Rechts, die er sich dazu beim Advokaten geborgt hat, vor, bloß um auf einen anderen tüchtig losschlagen zu können; wieder einer hat, zum selben Zweck, die des öffentlichen Wohls und des Patriotismus gewählt; ein Dritter die der Religion, der Glaubensreinigkeit. Zu allerlei Zwecken hat schon mancher die Maske der Philosophie, wohl auch der Philanthropie und dergleichen mehr vorgesteckt. […]

      Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung, welche Zivilisation heißt. Daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abgefallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist. – Wer inzwischen auch ohne solche Gelegenheit sich darüber aufklären möchte, der kann die Überzeugung, dass der Mensch an Grausamkeit


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