Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
Sie war scheu und empfindsam und sah, ihrem Namen entsprechend, ganz wie ein Gänseblümchen aus. Sie lernte mit gründlichem Fleiß. Ihre Lehrer hielten sie für die denkbar beste Schülerin; sie gab pflichtschuldig und treu zurück, was ihr gereicht wurde. Sie hatte wenig Feuer und lehnte nichts ab. Sie spielte Klavier ohne Leidenschaft für die Musik. Aber ihr Spiel war ehrlich und sauber; sie hatte einen guten, etwas reißerischen Anschlag Ohne auszusetzen übte sie stundenlang.
Steve jedoch taugte offenbar nichts in der Schule. Als er vierzehn war, wurde er eines Tags aufs Rektorzimmer bestellt, wo er wegen Schwänzens und Aufbegehrens eine Tracht Prügel empfangen sollte. Aber der Geist der Untertänigkeit war nicht in ihm. Er riß dem Schulmeister den Stock aus der Hand, brach ihn entzwei, schmiß dem Mann die Stücke ins Gesicht and sprang lachend ans dem Fenster die fünf Meter auf den Schulhof hinunter.
Dies war einer seiner besten Streiche. In anderen Stücken, erwies sich seine Führung weniger zu seinen Gunsten. Er verbummelte, nachdem er aus der Schule hinausgeworfen worden war; sein Leben geriet schnell auf lasterhafte Abwege. Der Gegensatz zwischen ihm und Gant führte zu offnem, bitterm Streit. Vielleicht erkannte der Vater in den Schattenseiten des Sohns seine eignen Schwächen; jedenfalls, jene Eigenschaften, die mit dem Charakter Gants versöhnten, fehlten seinem Ältesten ganz. Steve hatte einen zähen Talgklumpen. wo sein Herz hätte sitzen sollen.
Von allen Geschwistern hatte er die schwerste Jugend gehabt. Von Kind auf war er Zeuge von Gants wildesten Ausschweifungen gewesen. Er vergaß es nie. Da Eliza sich notwendig mehr mit den jüngeren Kindern abgeben mußte, war er als der Älteste sehr früh sich selbst überlassen geblieben. Eugen trank noch an ihren Brüsten, als Steve längst seine ersten zwei Dollar zu den Damen in Eagle Crescent getragen hatte.
Die Beschimpfungen, mit denen ihn Gant überhäufte, verletzten ihn tief. Gerade weil er sich seiner Schwächen bewußt war, bestätigte es ihn in seinem stutzerhaften Trotz, daß er von seinem Vater selten anders als »verkommener Taugenichts«, »degenerierter Kerl«, »Wirtshaushocker« genannt wurde. Billig-elegant und auffallend angezogen, mit knallgelben Schuhen, gestreiften hellen Hosen, grellem Schlips, einen breitrandigen Strohhut mit buntem Band auf dem Kopf, mit einem Lächeln von erzwungener Selbstsicherheit im Gesicht, mit einer hochstaplerischen Lässigkeit im Gang, bummelte er herum. Er grüßte mit dienstbereiter Herzlichkeit jeden, der ihn beachtete. Wenn ihn einmal ein reicher Mann grüßte, dann pickte seine Versehrte aufgeblasene Eitelkeit die Brotkrume gierig auf. Zu Haus prahlte er dann: »Ha! Jedermann kennt den kleinen Steve Gant! Die besten Leute im Städtchen respektieren ihn! Alle! Jedermann hat ein gutes Wort für ihn, bloß seine eignen Angehörigen nicht. Ja, ja! Wißt Ihr, was James T. Collins heut zu mir sagte?«
»Wer? Was?« fragte Eliza und sah mit komischem Blick schnell von ihrem Strümpfestopfen auf.
»Ei, James T. Collins, der seine zweimalhunderttausend Dollar auf der Bank liegen hat. ›Steve‹ hat er gesagt, ›wenn ich Dein Hirn im Kopf hätt' …« Und in selbstgefälliger Laune ließ Steve sich gehen und malte ein Bild seines zukünftigen Erfolgs, wenn alle, die ihn nun über die Achsel ansahen, ihn bewundern würden … »Ja, dann werden sie alle kommen und dem kleinen Steve die Hand drücken wollen!« prophezeite er.
Als Steve aus der Schule geworfen wurde, hatte ihn Gant aus Wut furchtbar verhauen. Steve vergaß es nie. Schließlich wurde ihm gesagt, er solle sehen, wie er sich durchbringe. Er fand Gelegenheitsarbeit in einer Sodafontäne und als Austräger bei einem Morgenblatt. Mit seinem Freund Gus Moody, dem Sohn eines Eisenarbeiters, ging er eines Tags auf die Tramp. Dreckig und speckig krochen die beiden Vagabunden aus einem Güterzug in Knoxville in Tennessee, verbrauchten ihr bißchen Geld für Essen und in einem Bordell und erschienen zwei Tage später kohlschwarz und prahlend wieder daheim.
Eliza keifte. »Ich schwör's! Ich weiß nicht, was aus dem Jungen werden soll.« Es war tragisch, daß sie Wesentliches immer zu spät einsah. Sie schürzte die Lippen, ließ ihre Gedanken woanders hin wandern, und dann, wenn das Mißgeschick eintrat, flennte sie. Immer wartete sie ab. Außerdem liebte sie ihren Ältesten, wenn nicht mehr, so doch ganz anders als ihre übrigen Kinder. Sein erbärmliches Prahlen, seine windigen Aufschneidereien gefielen ihr. Sie hielt sie für Zeichen von Smartheit. Nicht selten erboste sie ihre beiden fleißigen Töchter damit, daß sie diese Eigenschaften an Steve lobte. Wenn sie seine Handschrift sah, pflegte sie zu bemerken:
»Eine Sache ist sicher. Steve schreibt eine bessere Hand als ihr alle, trotz eurer Schulbildung.«
Die Freuden der Flasche hatte Steve schon als kleiner Junge kennengelernt. Wenn sein Vater besoffen war, stahl er manchen schnellen Schluck. Der scharfe, geile Geschmack des Whiskys machte ihm übel … aber er konnte mit der Tat vor seinen Kameraden prahlen.
Als er fünfzehn war, entdeckte er beim Zigarettenrauchen mit Gus Moody eine Flasche Whisky in der Scheune eines Nachbars, die dieser würdige Staatsbürger aus Angst vor seiner Frau in einem Hafersack versteckt hielt. Als der brave Mann das nächste Mal auf einen heimlichen Zug in die Scheuer kam, fand er die Pulle halbleer. Ergrimmt verschnitt er den Rest in der Flasche mit Krotonöl. Die beiden Burschen erbrachen mehrere Tage lang.
Eines Tages fälschte Steve einen Scheck auf den Namen seines Vaters. Es vergingen ein paar Tage, bis Gant es entdeckte. Es handelte sich bloß um drei Dollar, aber die Wut war groß. In seiner Verkündigung zu Hause – er schrie so laut, daß Steves Sünde der gesamten Nachbarschaft bekannt wurde – drohte er mit dem Zuchthaus. Natürlich zahlte er den Scheck, aber die Liste der Schimpfnamen für Steve wurde um die Vokabel »Wechselfälscher« vermehrt. Steve schlich verstohlen aus und ein. Mehrere Tage aß er seine Mahlzeiten allein. Es fielen wenige Worte, wenn Vater und Sohn zufällig einander begegneten. Mit harten Blicken durchschauten sie einander. Sie wußten, daß sie beide von denselben Gelüsten und Gierden verseucht wären. Sie schämten sich voreinander.
In seinen Tiraden gegen Eliza bestand Gant darauf, daß der Junge alles Schlechte von seiner Mutter Seite geerbt hätte. »Er ist ganz wie Dein Bruder Greeley!« gellte er. »Bankerte aus dem Gebirg! Bankerte aus dem Gebirg! … Denk an mich, wenn er im Zuchthaus endigt.«
Sie schwieg gewöhnlich dazu und schürzte die Lippe unter der klobigen Nase. Nur manchmal bemerkte sie, um seine Wut zu stacheln:
»Vielleicht wäre er besser geraten, wenn er nicht immer seinen Herrn Vater aus den schlimmsten Häusern heimgeholt hätte.«
»Das lügst Du, Weib, das lügst Du, bei Gott!« donnerte Gant, der zwar ein mächtiger Mann, aber gar kein Logiker war.
Gant trank weniger. Abgesehen von Rückfällen in den Säuferwahnsinn, die alle sechs bis acht Wochen eintraten und zwei bis drei Tage dauerten, gab er Eliza keinen Grund, über seine Trunksucht zu klagen. Was jedoch ihre ungeheure Geduld fast erschöpfte, war seine gewohnheitsmäßige, alltägliche Schimpferei.
Sie schliefen nun in getrennten Stuben im Obergeschoß. Gant stand um sechs oder halb sieben auf, zog sich an und ging runter, um die Feuer anzumachen. Während er den Küchenherd und den offenen Kamin im Wohnzimmer in Betrieb setzte, murmelte er unausgesetzt vor sich hin. Seine halblaute Stimme hob und senkte sich zu rednerischen Schwüngen. Er bereitete seine Tirade vor. War die Sache genügend geübt, dann erschien er plötzlich in der Küche vor Eliza und ließ unvermittelt seinen Schwall auf sie los, einerlei ob sie allein oder ob der Lieferjunge vom Krämer oder der Negerbursche, der Fleisch austrug, zugegen waren.
»Weib! Hättest Du ein Dach überm Kopf, wenn ich nicht dafür gesorgt hätte? Hättest Du Dich auf Deinen nichtsnutzigen Vater verlassen können? Hätten Dir Deine Brüder Will oder Jim ein Obdach gegönnt? Haben diese Pentlands je jemandem etwas gegeben? Haben sie je für andere als für sich selber gesorgt? Hat einer von ihnen je einem Bettler auch nur eine trockene Brotkruste gereicht? Nein, tausendmal nein! Ein bitterer Tag war es für mich, als ich in diese Bergwelt der Heimsuchungen kam. Mir ahnte und schwante nicht, unter was für Geschöpfen der Mensch hier leben muß. Bankerte aus dem Gebirg! Gezücht! …« Und nun erreichte die anschwellende Flut ihren Höhepunkt.
Manchmal, wenn sie einen Versuch zu antworten machte, kamen ihr Tränen. Das freute ihn. Es machte ihm Spaß, sie weinen zu sehn. Gewöhnlich aber zollte sie nur kurzen Bescheid. Sie war unendlich erschöpft von dem ewigen Gezeter. Gant aber bedurfte dieser Ausbrüche. Die fiebrige,