Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
Redestrom rollte hochstaplerisch und verrückt, formvollendet wie klassische Zitate. Trotz des leichten Grinsens um die Winkel seines dünnlippigen, kläglichen Mundes nahm er diese pathetische Ausdrucksweise völlig ernst.
In Sidney, der Hauptstadt eines der mittleren Südstaaten, machte er ein Geschäft auf. Er lebte nüchtern und fleißig unter den aufmerksamen Augen der Bevölkerung, die noch vom verlornen Krieg und von Feindseligkeit wund war. Er machte sich einen guten Namen, fand Zutritt, heiratete eine hagere, lungensüchtige, auf die Ehe erpichte Jungfer. Cynthia war zehn jähre älter als er; sie hatte etwas Geld. Achtzehn Monate Ehestand verwandelten ihn wieder in einen tobsüchtigen Trinker. Sein Geschäft ging in die Brüche, während er sich in den Schenken räkelte. Cynthia, deren Leben er – so meinten die Mitbürger – nicht verlängern half, starb plötzlich nachts an einem Blutsturz.
So war wieder alles dahin: Cynthia, die Werkstatt, die schwer erkämpfte Nüchternheit, das Haupt des Engels. Er strich nachts durch die Straßen und verfluchte die Südstaaten und ihre Trägheit in gellen, pathetischen Flüchen. Angekränkelt von Angst, vom Verlust, von Reue, zermürbt von den tadelnden Blicken der feindseligen Stadt, fiel er vom Fleisch; und war überzeugt, daß Cynthias Geißel ihn strafend heimsuchte.
Er war erst knapp über dreißig, sah aber viel älter aus. Sein Gesicht war gelb und hohl. Seine großzinkige, wächserne Nase wirkte wie ein Vogelschnabel. Sein langer, brauner Schnurrbart hing traurig herab. Das wüste Trinken hatte seine Gesundheit untergraben. Er war spindeldürr geworden und hustete ständig. Er war einsam, er dachte an Cynthia. Ihm wurde angst. Er glaubte, er sei schwindsüchtig und müsse bald sterben.
Allein und abermals verloren, da er nirgends in der Welt Ordnung und Bleibe gefunden hatte, da ihm der Boden unter den Füßen entzogen war, nahm er sein zielloses Streunerleben wieder auf. Er wandte sich westwärts gegen das große Gebirg, denn er wußte, daß jenseits der Berge sein übler Ruf unbekannt war. In den Bergen hoffte er Einsamkeit, neues Leben und seine Gesundheit wieder zu finden.
Seine Augen wurden wieder dunkler. Wie in seiner Jugend.
Den ganzen Tag unter einem verregneten grauen Oktoberhimmel fuhr Oliver westwärts durch den großen Staat Catawba. Er blickte traurig zum Fenster hinaus auf das riesige, ungeordnete Land. Die paar armseligen Farmen schienen ihm vergeblich in diese Wildnis gepflanzt. Sein Herz wurde kalt und wie Blei. Er dachte an die mächtigen Scheuern Pennsylvaniens, an das goldne, reife, geneigte Korn, an die Fülle, die Ordentlichkeit, das reinliche Auskommen der Menschen dort. Er dachte daran, wie er selbst ausgezogen war, um Auskommen und Bleibe für sich zu finden. Er dachte an das Wirrsal seines Lebens, seine vergeudete Jugend, die Spur der Jahre.
Bei Gott, dachte er, ich werde alt. Warum hier?
Die verschollenen Jahre zogen gespenstisch in seinem Hirn um. Er sah plötzlich, daß eine Kette von Zufällen sein Leben bestimmt hatte: … ein Lied von Armageddon, das ein verrückter Rebell sang … Hörner und Maultiergetrappel der Armee auf der Landstraße … das alberne weiße Gesicht eines Engels in einer verstaubten Werkstatt … die wippenden Schinken einer vorüberstreifenden Strunze … Das hatte ihn aus Wärme und Fülle in diese Öde getrieben. Als er zum Fenster hinaus auf die fahle unbebaute Erde starrte, das große kahle Massiv des Piedmont, das schmutzige Ziegelrot der Landstraßen, die verschlampten Menschen, die gaffend auf den Stationen herumlungerten – einen dürren Farmer, der unsicher auf dem Kutschbock schwankte, einen torkelnden Neger, einen zahnlosen Farmtölpel, ein blasses verhärtetes Weib mit einem schmierigen Balg auf dem Arm –, da packte ihn die Furcht vor der Fremdheit des Geschicks. Was hatte er hier zu suchen? Wie kam er hierher? Aus dem ungetrübten Behagen seiner Jugend hierher in dieses endlose, verlorne, verkrümelte Land?
Der Zug klapperte vorwärts. Es regnete ständig. Der Grund roch stark. Ein Bremser kam und leerte einen Kroppen Kohle in den Ofen am Ende des Abteils. Es zog. Zwei blöde Kerle, die mit ihm in dem mit schmutzigem Plüsch bezogenen Abteil saßen, brachen in ein leeres, hohes Gelächter aus. Die Glocke der Lokomotive bimmelte kläglich über dem Rädergerassel. Am Fuß des Gebirges war ein Bahnknotenpunkt. Dort stand der Zug eine unendliche, dröhnende Weile lang still. Dann ging die Fahrt weiter über die leere rollende Erde hin.
Es wurde düster. Riesige Bergmassen traten vag aus dem Dunst. In den Hütten auf den Hängen gingen kleine blakende Lichter an. Der Zug schwankte über schwindelnde Gerüste, die sich hoch über geisterhaft strudelnden Wassern spannten. Jäh in der Höhe, jäh in der Tiefe hingen kleine Spielzeughäuser an den Ufern, den Schlüften, den Abhängen. Zäh und langsam arbeitete sich der Zug durch Einschnitte ins rote Erdreich in die Höhe. Es war dunkel, als Oliver in der Kleinstadt Old Stockade, der armseligen Endstation der Bahnlinie, ausstieg. Die letzte Bergwand lag ungeheuer vor ihm. Als er in das fettige Funzellicht eines ländlichen Landes starrte, hatte Oliver das Gefühl, daß er – ganz wie ein großes Tier, das sich zum Verenden in die Wildnis zurückzieht – sich dem Tod entgegen in den Ring dieser Berge schleppe.
Am nächsten Morgen reiste er mit der Postkutsche weiter. Sein Ziel war die kleine Stadt Altamont, vierundzwanzig Meilen entfernt, tief im Gebirg gelegen. Als die Pferde auf der steilen Straße anzogen, wurde Oliver etwas vergnügter. Es war ein graugoldner Spätoktobertag, hell und windig. Die Höhenluft wehte frisch und scharf. Die Berge ragten über ihm, ganz nah, ungeheuer, unfruchtbar, unbegangen. Bäume, beinah laublos, hoben sich klar und mächtig ab. Der Himmel trieb mit weißen Wolkenfetzen. Ein dichter Nebelschwaden wogte langsam eine Steilhalde hinab.
Tief unten schäumte ein Bach. Oliver sah, ganz winzig, einen Trupp Arbeiter, die an dem Schienenstrang, der sich über die Bergkette nach Altamont winden sollte, arbeiteten. Die Kutsche kam übers Joch. Die Gäule schwitzten. Ringsum schwangen königlich die Bergketten, verschwammen in blaurotem Dunst. Der Abstieg zu dem Hochplateau, auf dem Altamont liegt, begann.
In die geisterhafte Ewigkeit der Berge eingebettet, über hundert kleine Hügel und Senken gebreitet, fand Oliver eine Stadt von viertausend Einwohnern.
Hier war Neuland. Ihm wurde leicht ums Herz.
Diese Stadt Altamont war kurz nach dem Befreiungskrieg gegründet worden. Sie war damals ein bequemer Halteplatz für Viehtreiber und Farmer auf dem Weg von Tennessee nach Süd-Carolina. Bereits ein paar Jahrzehnte vor dem Bürgerkrieg war sie Sommeraufenthalt modischer Leute aus Charleston und von den heißen Plantagen des Südens. In den Jahren, als Oliver Gant dort ankam, hatte ihr Ruf als Kurort für Lungenkranke gerade begonnen. Ein paar reiche Herren aus dem Norden hatten Jagdhütten im Gebirg. Einer von ihnen hatte große Landstrecken aufgekauft und baute nun mit einer Armee von Zimmerleuten und Maurern unter einem Stab importierter Architekten das größte Landhaus in den Vereinigten Staaten – so ein Ding aus Kalkstein mit spitzen Schieferdächern und einhundertdreiundachtzig Zimmern, nach dem Vorbild des Schlosses von Blois. Außerdem gab es ein großes neues Hotel aus Holz, eine kostspielige Riesenscheuer, die protzig-behaglich auf einer gebietenden Anhöhe über der Stadt thronte.
Aber weitaus die Mehrzahl der Einwohner war alteingesessen; stammte aus dem Gebirg; ein Menschenschlag schottisch-irischen Blutes: hinterwäldlerisch, fleißig, handfest, intelligent.
Oliver hatte aus dem Zusammenbruch von Cynthias Vermögen zwölfhundert Dollar gerettet. Er mietet einen kleinen Schuppen an einer Ecke des Stadtplatzes, kaufte ein paar Marmorblöcke auf Lager und fing sein Geschäft an. Zu tun hatte er die erste Zeit wenig. Einsam und trübselig hing er seinen Todesgedanken nach. Während des bittern Winters wurde der lange dürre Yankee, diese wandelnde Vogelscheuche, die murmelnd durch die Straßen strich, zum Stadtgespräch. Alle Leute im Boarding-House wußten, daß er nachts in seinem Zimmer mit großen Schritten wie ein Raubtier im Käfig auf und ab ging, und daß er im Schlaf tief aufstöhnte. Er sprach mit niemandem.
Als aber der wunderbar grün-goldne Bergfrühling mit kurzen heftigen Windstößen, mit dem Zauber und Duft der Blüten, mit lauen balsamischen Brisen kam, begann die große Wunde in Oliver zu verheilen. Seine Stimme ward wieder vernommen. Purpurn leuchteten die alte Beredsamkeit, das alte Ungestüm in ihm auf.
Eines Apriltages, als er frischerweckter Sinne vor seine Werkstatt trat, um das flimmernde Leben auf dem Stadtplatz zu beobachten, hörte er hinter sich die Stimme eines Mannes, der gerade vorüber ging. Und diese seichte, träge, langgezogne Stimme rührte wie ein Lichtstrahl an ein Bild, das zwanzig