Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
schwächerwerdenden Pfiff der Lokomotive in einem fernen Tal und den leisen Rumpeldonner des Zugs auf den Schienen. Er ahnte im verführerischen Nu die unendliche Weite und Tiefe der goldnen Welt mit ihren zahllosen, heimischen, ineinander verwobnen Gerüchen und Sinnesräuschen.
Er erinnerte sich an das »Ostindische Teehaus« auf der Weltausstellung; das Sandelholz, die Turbane und Gewänder, die kühlen Räume und den Duft des schwarzen Tees. – Er kannte den Geruch von Kellern; von Wassermelonen, die in Heu gebettet auf einen Farmwagen verladen werden; den Geruch von Pfirsichen, in Lattenverschläge gepackt; den Geruch von bittersüßen Orangenschalen vor einem Kohlenfeuer. Er kannte den Geruch von seines Vaters Zimmer, gemischt aus Leder, Tabak, Wolle, Schweiß und Männlichkeit … den beizenden von Holzfeuerrauch und von brennendem Laub an Oktoberabenden … den trägen der Erde im Spätherbst und den süßen des Jelänger-Jelieber in Sommernächten … den köstlichen von Speck-und-Eiern in der Pfanne zusammen mit dem von kochendem Kaffee. Er kannte den Geruch von einem Backofen im Wind, von buttergeschmälztem grünem Bohnengemüse aus einer Küche, von blauen Trauben in langen Weidenkiepen, von einer ungelüfteten Bodenkammer aus trocknem Tannenholz, in der eingekampferte Teppiche und stockfleckige Schmöker aufbewahrt werden.
Ja! und er kannte den Geruch von Tünche und Firnis, von neuem Leder im Sattlerladen, von Honig, Kaffeesäcken, Pickels, Käsen, Pfeffer und Werweißwasnoch im Krämergeschäft … den Geruch von Sägmehl, Hobelspänen und aufgeschichteten Bohlen, von alter Eiche und Walnuß, von Harz …
Ja! und den Geruch von Pfirsichen beim Einkochen und von Butter- und-Zimt auf heißem Jam … und den Geruch des trägen Flusses und von am Stock verfaulenden überreifen Tomaten … den Duft der Kirschblüte … den scharfen Geruch von Unkraut und Algen und Brackwasser und Torf bei einem Sumpftümpel … den Geruch der Erde nach langem Regen … den Geruch kochender Quitten und den des welkenden Lilienbeets … den ausgezeichneten Geruch der Südstaaten, sauber und bang, wie der einer großen Frau.
Ja! und den Geruch einer Margeritenwiese am Morgen … von schmelzendem Gußeisen in der Esse … von rauchenden Misthaufen und warmen Pferdeställen … den Geruch der Metzgerei nach starkem Hammel, feister Leber, gewürzter Wurst, rotem Rindfleisch … den Geruch zerriebener Pfefferminzblätter und den von einem nassen Fliederbusch; von Magnolien unterm Vollmond; von Lorbeer und Hundsholz … den Geruch von alten, verkrusteten Bruyèrepfeifen, von Virginiatabak, von Bourbon-Rye-Whisky in einem eichenen Faß … den Geruch von Karbol, den Geruch von einem treuen Haushund, von Schweinebraten, von Vanille in einem Kuchenteig … den Geruch von Farnkraut bei einer Quelle.
Ja! und den Geruch einer Eisenhandlung, hauptsächlich den reinlichen Geruch von Nägeln … den Geruch von Chemikalien zum Entwickeln aus der Dunkelkammer des Photographen … den junglebigen Geruch von Farben und Terpentin … von Buchweizenteig und schwarzem Sorghum … den Geruch von einem Neger zusammen mit dem von einem Gaul … den Geruch des dichten Unterholzes auf den Bergen der Südstaaten … von Austern in einem Schaff … von ausgeweideten Fischen auf Eis … von einer heißen Negerköchin … von Petroleum und Linoleum; von Sarsaparilla und Guaven, von herbstlich reifen Persimonen.
Ja! und den Geruch von Regen und Wind, des scharfen Donners, des kalten Sternlichts, des sprödhalmigen, gefrornen Grases; den Geruch von Nebel und wolkenverhängter Wintersonne; den Geruch der Saatzeit, der Blühzeit, des mürben, fallschweren Herbstes.
Und maßlos gelüstig gemacht durch diese Erfahrungen, fing er nun an in der Schule, in der Geographiestunde, die gemischten Gerüche und Düfte des Erdreichs zu ahnen. In jedem Fäßchen, das auf der Straße abgeladen wurde, roch er einen Schatz aus goldnem Rum, süßem Portwein, schwerem Burgunder. Er genoß den Dschungelwald der Tropen, den üppigen Duft von Plantagen … den Salz- Fisch- und Teerdunst der Häfen … Er reiste in eine weite Welt, die bezauberte ohne zu verwirren.
Nun waren die unzähligen Inseln des Archipels miteinander verbunden worden; festen Fußes stand Eugen auf dem unbekannten, wartenden Kontinent.
Er lernte sofort lesen; sein gutes Bildgedächtnis hielt den Umriß des gedruckten Worts scharf und genau fest. Aber es dauerte Wochen, bis er schreiben oder wenigstens Buchstaben nachziehen konnte. Schaumfetzen und Traumtrümmer der verlornen Welt schwammen immer noch durch sein klares Schultagsmorgengemüt. Obschon er sonst dem Lehrgang genau folgen konnte, blieb er ins alte Unwissen verbannt, sobald es ans Buchstabenmachen ging. Die Kinder zogen ihre unbeholfnen Alphabete unter einer Reihe von Modellbuchstaben, aber alles, was Eugen fertigbrachte, war ein Durcheinander schwanker, zittriger Speere, die er mit unendlicher Begeisterung andächtig wiederholte, unfähig einzusehen, wieso das keine Buchstaben wären.
»Ich habe schreiben gelernt«, dachte er.
Eines Tages guckte Max Isaacs plötzlich von seiner Übung herüber auf Eugens Blatt und sah die unebnen Zackenlinien.
»Das is' nich' geschrieb'n«, sagte er.
Er klemmte seinen Bleistift in die schmutzige, warzige Hand und schrieb die Vorbilder einmal in Eugens Heft ab.
Die lebendige Linie, die schöne, sich entwickelnde Struktur, die Eugen aus dem Bleistift seines Kameraden fließen sah, zerschnitt den Knoten, den keinerlei Unterweisung zu zerschneiden vermocht hatte. Er nahm den Bleistift, ohne weiteres, und schrieb die Buchstaben in schönerer, feinerer Ausführung, als es sein Freund vorgemacht hatte, auf die nächste Zeile. Er machte sich, einen unterdrückten Schrei in der Kehle, an die folgende Seite und schrieb ohne zu zögern das Vorbild ab. Und so tat er auf der nächsten und übernächsten. Mit dem hellen Staunen, mit dem Kinder ein Mirakel anerkennen, sahen sie einander an.
»Das is' jetz' geschrieb'n«, sagte Max.
Sie bewahrten das Geheimnis unter sich und sprachen nie davon. Eugen dachte später oft über diesen Vorfall nach. Er erlebte dann wieder das Aufspringen der Tore, das Eindringen der Flut, die Flucht. Ja, ganz genau so war es eines Tages geschehen.
Da er noch knirpsenhaft nah an der Erdkruste lebte, gewahrte er manche Dinge, die er geheimhielt, wohlwissend, daß man ihn auslachen würde, wenn er darüber berichte. Eines Samstags im Frühjahr gingen er und Max Isaacs die Central Avenue hinunter. Sie blieben vor einer Grube stehen. Arbeiter flickten ein gebrochenes Wasserrohr. Die aufgeworfenen Erdwälle waren höher als ihre Köpfe. Dahinter war eine weite Kluft, ein Fenster ins Erdinnere, durch das man in einen dunklen Stollengang sehen konnte. Als die beiden Buben hinunterblickten, packten sie plötzlich einander am Arm. Da unten glitt eine ungeheure Schlange. Sie sahen den flachen Kopf, den langen Schuppenleib, der im Umfang dicker als ein Manneskörper war. Der Kopf war schnell verschwunden, der Leib des Ungeheuers aber glitt endlos weiter in die tiefe, tiefe Erde hinein und verschwand schließlich, ohne daß die ahnungslosen Arbeiter überhaupt etwas merkten. Die Buben, vor Schreck zitternd, gingen fort. Dann und auch später sprachen sie nur im Flüsterton von dem Erlebnis. Aber sie erzählten keinem Menschen davon.
Eugen fand sich leicht in den geregelten Gang des Schullebens. Genau wie seine Brüder schlang er frühmorgens sein Frühstück hinunter, schluckte heißen Kaffee, packte, wenn das letzte Klingelzeichen der Schulglocke ertönte, ein fettfleckiges Papierbündel mit belegten Broten und rannte aus dem Haus. Das Herz hämmerte ihm zum Hals vor Aufregung; er machte schlapp, wenn der Ton der Schelle matter wurde.
Ben, stirnrunzelnd und hämisch, stemmte ihm eine Hand ins Kreuz und schob ihn bergan. Ganz außer Atem kam er ins Klassenzimmer und sang noch die letzte Strophe des Morgenlieds mit, das die in vier Gruppen eingeteilte Klasse als Kanon sang:
»… fröhlichsein, fröhlichsein,
Leben ist ein Traum …«
Manchmal, besonders an kalten Herbstmorgen, sangen sie auch: »erwacht ihr Herrn und Damen froh …« oder den Wettstreit zwischen Südwind und Westwind, im Frühling auch das lustige Müllerlied.
Lesen fiel ihm leicht; er buchstabierte zuverlässig; im Rechnen war er gut. Aber er haßte die Zeichenstunde, obschon ihn Buntstiftschachteln und Malkasten entzückten. Manchmal machte die Klasse Waldspaziergänge; sie kamen mit hochroten Ahornblättern, Tannenzapfen, braunem Eichenlaub zurück; das sollte gemalt werden. Im Frühling war es ein kleiner Kirschblütenzweig oder eine Tulpe. Eugen blieb stets befangen vor der rundlichen Klassenlehrerin, die den Unterricht