Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze - Thomas  Wolfe


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und kaute ständig Tabak, Sein Vater war ein wohlhabender Mann; er wohnte auf seiner großen Farm in einem Tal in der Nachbarschaft. In der Stadt besaß er eine Molkerei und einen Eisenhammer. Einfache Leute, die sich nicht dick taten, die Reinharts. Deutscher Abkunft.

      »Leuchtet mir nicht ein, Mister Leonard«, sagte Pap Reinhart. »Soll man etwa mit den Farmarbeitern Latein reden?«

      »Gibibus mirus Mistgablus«, sagte Tom Davies lachend. Mister Leonard lachte geistesabwesend mit; die Redensart stammte von ihm.

      »Es trainiert den Verstand darauf, mit Problemen aller Art fertig zu werden«, erklärte er.

      »Ihrer Meinung nach also«, stellte Tom Davies fest, »müßte ein Mann, der griechisch gelernt hat, einen besseren Klempner abgeben als einer, der es nicht kann.«

      »Ja, durchaus«, sagte Mister Leonard und nickte entschieden mit dem Kopf. »Du weißt ja, ich glaube es ganz bestimmt.« Dann fiel er mit einem schlabberigen Kichern in das dröhnende Gelächter seiner Schüler ein.

      Er stand hier mit festen Füßen auf hartgetretnem Grund. Die Schüler verlockten ihn zu langen Debatten, während er seinen Mittagsimbiß aß. Verführerisch, mit liebenswürdiger Vernunft und erschöpfender Genauigkeit, bewies er ihnen die Beziehungen zwischen Griechisch und dem Grünwarenhandel. Der große Wind aus Athen hatte ihn nie gestreift. Von der delikaten, sinnlichen Intelligenz der Hellenen, ihrer femininen Grazie, der konstruktiven Macht und Subtilität ihres Denkens, der Unstabilität ihres Charakters, von der Struktur, dem Maß und der Vollkommenheit ihrer Formen, davon sagte er nichts.

      Auf einer amerikanischen Universität hatte er einen Blick auf die große Ausdrucksform der architektonischsten aller Sprachen erhascht. Er spürte die plastische Vollkommenheit eines Wortes wie γυναιχός, aber seine Meinungen rochen nach Kreide und Studierfunzel. Griechisch war gut, weil es alt, klassisch und akademisch war. Das Wesen war ihm fremd wie Lesbos. Er war einfach das Schallrohr einer Formel, deren Richtigkeit er für sicher hielt. Er hatte keinen echten Glauben.

      Καί χατά γήν χαί χατά δάλατταν

      Den Unterricht in Mathematik und Geschichte erteilte John Dorsey Leonards Schwester, Miss Amy. Sie war eine mächtige Person, 1,90 Meter groß, 160 Pfund schwer. Sie hatte dichtes, öliges, schwarzes Strähnenhaar und pechschwarze Augen, was ihrem Gesicht ein sehr sinnliches Aussehen verlieh. Ihre starken Unterarme waren mit leichten Daunen behaart. Sie war nicht fett, aber sehr einkorsettiert; die schweren Schultern und die mächtigen Arme zeichneten sich unter dem kühlen Weiß ihrer Blusen ab. Bei heißem Wetter schwitzte sie stark; unter den Achseln bildeten sich breite Schweißplacken an ihrer Bluse. Im Winter wärmte sie sich am Feuer. Sie hatte den aufregenden Duft von Kreide und den starken, guten Geruch eines gesunden Tiers. Eines Winterabends ging Eugen über die windbefegte Rückveranda und blickte in ihr Zimmer, als ihre kleine Nichte gerade zur Tür heraus kam. Miss Amy saß vor einem großen, flackernden Kohlenfeuer, das im offnen Kamin brannte. Sie hatte gerade gebadet und zog ihre Strümpfe an. Fasziniert starrte Eugen die von der Hitze geröteten Schultern und den großen, tierhaften, dampfenden Leib an.

      Sie liebte Feuer und Wärme. Am liebsten saß sie, schläfrig und dennoch wach, am Ofen, die Beine beim Sitzen gespreizt, und saugte Hitze ein. Ihre Erdhaftigkeit war noch ausgesprochener, noch sinnlicher als die ihres Bruders. Wärme streichelte sie, regte sie langsam an. Träge, mit gleichgültiger Liebenswürdigkeit lächelte sie alle Jungen an. Niemals empfing sie Männerbesuch und war doch wie ein Teich durstig nach Lippen. Sie suchte keine Männer. Träge warm, katzenhaft lächelte sie alle Welt an.

      Sie war eine gute Mathematiklehrerin. Ihr Zahlensinn war angeboren. Träge gab sie die Aufgabe, träge rechnete sie die Lösung vor und lächelte mit gutmütiger Geringschätzung. Hinter ihr stöhnte Durand Jarvis leidenschaftlich in Eugens Ohr, krümmte sich in erotischer Verzücktheit, krampfte sich an das Pult.

      Die Schwester Sheba traf gegen Ende des zweiten Schuljahrs ein, begleitet von ihrem schwindsüchtigen Gatten, Mister Lattimer, einem wandelnden Leichnam mit Blutspuren an den Lippen, 73 Jahre alt. Die Leonards sagten, er wäre 49, die Krankheit habe ihn zum Greis gemacht. Lattimer war über zwei Meter groß, wächsern und ausgemergelt, mit langen, geraden Schnurrbartspitzen; er sah wie ein Mandarin aus. Er malte: Bilder in impressionistischen Farbklumpen: – Schafe auf struppiger Bergtrift; Fischerboote am Pier mit einem roten Wirrwarr von Backsteinhäusern im Hintergrund; die alte Stadt Gloucester; Seestücke mit merkwürdigen, vorspringenden Uferfelsen; Volkstypen vom Cape Cod; Seebären mit jener stillbrütenden Leere im Gesicht, die anzeigt, daß ein Mensch mit dem Meer vermählt ist.

      Das brachte den Geruch von Salz und Tang, von Teer und trocknenden Fischen mit. Wie wohl das Meer in der Frühlingsmorgenfrühe aussieht? Die kalten Möwen schlafen auf dem Wind. Rosig aber der Himmel.

      Die Schüler sahen den wächsernen Mandarin dreimal den Weg vorm Haus auf und ab spazieren. Es war Frühling; Südwind sang in den hohen Bäumen. Mister Lattimer schwankte an einem Stock, den er mit blauer, schwindsüchtiger Hand vor sich hinsetzte. Seine Augen waren blaßblau, wie die Augen eines Ertrunknen.

      Er hatte zwei Kinder von Sheba: Mädchen, exotische, zarte Blüten, schwarz und milchweiß; seltsam und lieblich wie der Frühling selbst. Die Buben beschäftigten sich neugierig mit ihnen.

      »Er taugt, scheint's, doch noch mehr, als er aussieht«, bemerkte Tom Davies. »Die Kleinen sind erst zwei und drei Jahre alt.«

      »Er ist überhaupt nicht so alt, wie er aussieht«, behauptete Eugen. »Es kommt, weil er so krank ist. Er ist neunundvierzig.«

      »Woher willst Du das wissen?« fragte Tom Davies.

      »Miss Amy hat es mir gesagt«, gestand Eugen unschuldig.

      Pap Reinhart verrenkte komisch den Kopf und schob den Kautabakpriem mit der Zungenspitze in die andere Backe. »Neuhundvierzig!« sagte er. »Du bist nicht bei Trost. Laß Dich mal auf Deinen Geisteszustand untersuchen, Junge. Der Mann ist so alt wie Gott.«

      »Aber sie hat es doch gesägt!« bestand Eugen störrisch.

      »Natürlich behauptet sie das«, erwiderte Pap Reinhart. »Glaubst Du, sie werden's Dir auf die Nase binden? Wo sie hier ihre Privatschule haben!«

      »Junge, Junge, bist Du doof!« warf Jack Chandler ein, der sich bisher überhaupt nicht um die Sache bekümmert hatte.

      »Hölle und Schwefel!« sagte Julius Arthur, »siehst Du denn nichts ein? Du bist ihr Liebling. Und sie wissen genau, daß Du alles für bare Münze nimmst, was sie Dir vorerzählen.«

      Pap Reinhart sah Eugen forschend an und schüttelte den Kopf. »Hier ist eine Kur ausgeschlossen.« Die Mitschüler lachten über Eugens Gutgläubigkeit.

      »Na, wenn er schon so steinalt ist«, fing Eugen wieder an, »dann sagt mir doch, warum die Madame Sheba ihn geheiratet hat.«

      »Einfach weil sie keinen andern kriegen konnte«, entschied Pap Reinhart ungeduldig.

      »Glaubt ihr, daß sie ihn zu ernähren hat?« fragte Tom Davies ungeduldig. Stillschweigend wunderten sie sich.

      Eugen war bestürzt. Da sah er die zwei lieblichen Töchterchen wie Blütenblätter von den schweren Brüsten ihrer Mutter fallen, da sah er den wächsernen Kunstmaler seine letzten Schritte dem Tod entgegen wanken, da hörte er Shebas laute Stimme, wenn sie in saftiger Burleske ihre Meinungen zum besten gab … und er stand vor einem unlöslichen Rätsel: der Tod hatte Leben gezeugt, aus der groben Erde waren Blüten entsprungen.

      Sein Glaube war ein Ding für sich; er hatte mit seinen Überzeugungen nichts zu tun. Er hatte schmerzliche Enttäuschungen genug erlebt, um bittre Verdachte zu hegen und der Welt zu mißtrauen. Unwissend hatte er sich hier eine Mythologie aufgebaut, der er um so heftiger anhing, je klarer er sich über ihre Unwahrheit war. Bruchstückweise und unklar fing er an zu erkennen, daß Menschen – das heißt schöpferische Menschen – nicht für reale Wahrheiten leben, sondern die Tatbestände verfälschen. Manchmal war sein junges, unersättliches Hirn jeder Herrschaft entraten: ein gräßlicher Vögel hackte ihm mit dem Schnabel ins Herz, riß ihm mit den Fängen in den Eingeweiden. Und dieser Vogeldämon umflog ihn, stieß zu, hackte drein und zerriß … dann


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