Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
Auf der Straße schon hörte Studer die Musik. Besonders laut tönte die Handharfe. Schreier schien wieder seinen Platz eingenommen zu haben…
Und wer saß am Tisch, eifrig auf Armin Witschi einredend, mit hohem Stehkragen und schwarzen, hohen Schnürschuhen zu grauen Flanellhosen?
Der Lehrer Schwomm.
Er sprang auf, als Studer an ihm vorbeiging. Sein Gesicht war ratlos und kindlich. Ober der Oberlippe saß ein blondes Schnurrbärtchen.
»Herr Wachtmeister«, sagte der Lehrer Schwomm atemlos, »ich habe gehört, daß Sie sich mit dem Fall Witschi beschäftigten. Ich habe lange gezögert, Ihnen anzuvertrauen, was ich von der Sache weiß. Aber nun drängt es mich, der Gerechtigkeit meines Vaterlandes Genüge zu tun, und…«
»Red' nicht so viel, Schwomm«, sagte Armin grob. Studer blickte den Burschen streng an. Der nickte mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Du kannst mich lang anstarren, mir machst du keine Angst…«
»Wollen Sie nicht an meinen Tisch kommen, Herr Lehrer Schwomm?« fragte Studer höflich und wies mit der Hand gegen den Tisch, an dem noch immer der alte Ellenberger saß und gedankenvoll sein Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte…
Schwomm nahm Platz. Das heißt, er setzte sich auf die äußerste Kante des eisernen Gartenstuhls, zog dann sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Seine Gesichtshaut war fast so gelb wie seine gelockten Haare.
»Ich habe nämlich am Abend, an dem der arme Witschi durch Mörderhand umgekommen ist«, sagte der Lehrer Schwomm und knetete an seinen Händen, »zufällig zwei Schüsse gehört…«
»So?« sagte Studer trocken.
»A bah!« meinte der alte Ellenberger und zog die Mundwinkel in die Wangen.
»Ja«, der Lehrer nickte. »Zwei Schüsse. Ich bin an jenem Abend zufällig im Wald spazieren gegangen… In Begleitung… Ich brauche doch nicht anzugeben, mit wem ich im Walde war?«
Ellenbergers dröhnendes Baßlachen machte den Lehrer noch verlegener.
»Könnte ich nicht unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Herr Wachtmeister?« fragte er und wurde rot.
Studer schüttelte den Kopf. Ihn interessierte weniger, was der Lehrer ihm zu erzählen hatte, als das, was er offenbar verschweigen wollte. Und man konnte aus dem Verhalten des Mannes auf das schließen, was er zu verbergen hatte.
Der Lehrer Schwomm räusperte sich.
»Es war ungefähr zehn Uhr, als ich die Landstraße verließ und einen Seitenweg einschlug. Ich ging im Walde so für mich hin, wie es im Gedicht heißt, und ich dachte auch an nichts. Der Abend war still und weich, verschlafene Vögel zirpten in den Zweigen…«
»A bah!« krächzte wieder der alte Ellenberger, aber Studer winkte ab. Der Tisch Armins war leer. Gerber tanzte wieder mit Sonja, verfolgt von den gehässigen Blicken des ›Convict Bands‹, der ›Maquereau‹ tanzte mit der Kellnerin und schien ihr eifrig etwas zu erklären (vielleicht wollte er sie zu etwas überreden?).
»…Und von Zeit zu Zeit eilte ein flüchtiges Tier seiner Ruhestätte zu. Ich mochte mit meiner… mit meinem Begleiter schon ziemlich weit in die sanfte Tiefe des Waldes eingedrungen sein, als ich das Knattern eines auf der Straße sich nähernden Motorrades vernahm, eines leichten Motorrades möchte ich hinzufügen…«
»Fügen Sie nur ruhig hinzu«, sagte der alte Ellenberger und krächzte heiser. War es ein Lachen?
Aber der Lehrer ließ sich nicht mehr stören.
»Das Geräusch, wenn ich es so nennen darf, hörte plötzlich auf. Ich hörte Zweige knacken…«
»Können Sie etwa die Distanz schätzen, ich meine die Distanz, die Sie von der Straße trennte?« fragte Studer und ließ seine Brissago qualmen.
»Nicht genau«, antwortete Schwomm leise. Er schien entrückt zu ein. Seine Augen blickten verschwommen ins Weite – und das Weite war hier ein dichtbesetzter Wirtsgarten. »Vielleicht könnte ich die Stelle wiederfinden, an der ich gestanden bin…«
»Gut«, sagte Studer. »Weiter, Herr Lehrer Schwomm.«
»Diesen ersten Teil, nämlich das Herankommen des Motorrades und dessen plötzlichen Stillstand, habe ich natürlich im Augenblick nicht beachtet. Es ist mir erst später eingefallen, als im Dorfe von der Auffindung des Leichtmotorrades Marke ›Zehnder‹ gesprochen wurde, des Motorrades, das dem verunfallten Wendelin Witschi gehört haben soll…«
Verunfallten? dachte Studer. Warum sagt der Mann zuerst durch Mörderhand umgekommen und jetzt verunfallt? Sollte er? Und es fiel ihm ein, wie grob Armin Witschi den Lehrer angelassen hatte.
»Weiter«, sagte Studer.
Aber Schwomm bedurfte dieser Aufforderung nicht. Er sprach und begleitete seine Rede mit pathetisch sein sollenden Bewegungen.
»Da, plötzlich, in der Stille des Waldes, erdröhnten zwei Schüsse. Meine… mein Begleiter zuckte zusammen. Ich beruhigte ihn. Es werde wohl nichts Schlimmes sein. Aber da ich Angst hatte, oder vielmehr, da meine… Begleitung Angst hatte, wir könnten überfallen werden, verließen wir, einen großen Umweg machend, den Wald, gelangten weit vor dem Dorfe wieder auf die Landstraße und folgten ihr. Nach einiger Zeit sahen wir am Rande der Straße ein verlassenes Motorrad stehen. Es war an einen Baum gelehnt…«
Schwomm machte eine Pause.
»Gesehen haben Sie niemanden?« fragte Studer nebenbei.
»Gesehen? Nein. Nur gehört. Nach den beiden Schüssen das Geräusch vieler Schritte. Einen dunklen Schatten bemerkten wir auch, aber nicht gegen die Landstraße zu, sondern in der entgegengesetzten Richtung, dort, wo der Wald an die Baumschulen des Herrn Ellenberger grenzt.«
»Einen Schatten?« fragte Studer. »Können Sie den Schatten näher beschreiben?«
Statt einer Antwort fragte Schwomm sehr sanft:
Der Fall ist doch eigentlich durch das Geständnis des Schlumpf erledigt? Oder?«
»Gewiß, gewiß.« Studer sah auf seine gefalteten Hände. Er lauschte dem Tonfall von des anderen Stimme. Warum wohl hatte der Lehrer mit einem Zeugenbericht begonnen, um plötzlich, noch vor dessen Ende, die Frage zu stellen, ob der Fall nicht erledigt sei? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder der Lehrer wollte sich wichtig machen, um im Prozeß eine Rolle zu spielen, und es war sehr wahrscheinlich, daß diese Möglichkeit stimmte, – oder Schwomm wußte etwas, wagte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht die Wahrheit zu sagen und half sich aus der Klemme, indem er die Hälfte des Wahrgenommenen mitteilte, gewissermaßen als Beruhigungsmittel für sein belastetes Gewissen. Denn der Mann wußte etwas, das war sicher. Nicht umsonst ergeht sich ein immerhin gebildeter Mann – er war Sekundarlehrer – in einer ziemlich öden Phraseologie, wie ›verschlafene Vöglein zirpten in den Zweigen‹. Und dann war da das Wort, das dem Lehrer wahrscheinlich ganz unbewußt entschlüpft war: ›…verunfallten‹.
Schweigen am Tisch. Die Musik verstummte, das Stück war zu Ende und lauter ertönte das Stimmengesumm. Die drei am Nebentisch kehrten zurück. Sonja blickte unbeteiligt auf den Lehrer – sie schien also nicht die ›Begleitung‹ des Lehrers gewesen zu sein, wenn man überhaupt aus Blicken Schlüsse ziehen konnte. Armins Gesicht hingegen war leicht verzerrt. Er schien jemanden zu suchen. Manchmal streiften seine Blicke über den Lehrer Schwomm, schweiften ab, schienen wieder auf die Suche zu gehen, blieben an der Türe hangen, die aus der Wirtschaft in den Garten führte…
Dort stand die Kellnerin. Und Studer fühlte mehr, als daß er richtig gesehen hätte, wie sie ganz unmerklich winkte – eine leichte Bewegung des Kopfes, ein Mundwinkel, der zuckte… Armin lehnte sich zurück, gähnte, hielt die Hand vor den Mund. Ein kaum merkliches Nicken, – das Gähnen war wohl nur ein Versuch, die Beobachter von der Bewegung des Kopfes abzulenken…
Studer war nicht mehr müde. Es kam ihm vor, als stehe er wieder