Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
Zusammenbruch des Weltbildes!… Wir sprechen vom schizophrenen Weltuntergangsgefühl. Der Berg, der sich spaltet, eine Katastrophe für die Welt des Berges… Der Mord… eine Katastrophe für die Ganzheit des Menschen… Nun nehmen wir an, in unserer psychiatrischen Wissenschaft, und alles scheint darauf hinzuweisen, daß eine Schizophrenie einen organischen Ursprung hat. Unordnung im Drüsensystem, um laienhaft zu sprechen… In ihren Anfängen ist sie nicht zu erkennen, bestenfalls nur die Anlage dazu. Wir dürfen, wie im Falle Pieterlen, nicht weitergehen, als zu sagen, es werde wahrscheinlich später eine Geisteskrankheit ausbrechen. Weiter nichts. Aber wenn wir doch so g'merkig sind, dann sollten wir doch den Herren von der Justiz begreiflich machen können, daß sie es in einem Falle wie Pieterlen nicht mit einem Verbrecher, sondern mit einem Kranken zu tun haben; daß Pieterlen sein Kind getötet hat, aus Gründen, die wir psychologisch gerade noch verstehen können, aber die doch zeigen, daß jene Hemmung, von der ich sprach, nicht mehr vorhanden war…
Gut, ich habe versucht, dies dem Herrn Bezirksanwalt begreiflich zu machen… Der Herr Bezirksanwalt war also einesteils schuld, daß uns Pieterlen in so traurigem Zustande überwiesen wurde. Der Kindsmörder Pieterlen hatte sich in ein fremdes Reich geflüchtet, in das ich ihm nicht zu folgen vermochte, denn mein Gleichnis ist nur zum Teil richtig. Bei einer Schizophrenie denkt man nicht immer an einen gespaltenen Berg, manchmal denkt man an einen Teich, der von einer Quelle in ihm selbst gespeist wird, von außen aber hat der Teich keinen Zufluß. Manchmal sieht es aus, wie eine Flucht in ein fremdes Reich, an dessen Pforten wir pochen (poetisch! nicht wahr, lieber Studer?), und manchmal sieht es auch aus, wie eine gewöhnliche Besessenheit und man denkt an die Hexenprozesse des Mittelalters und an die Teufelsaustreibungen der Franziskaner und man wünscht eine Herde Säue bei der Hand zu haben, in die man die unsauberen Geister jagen könnte. Nun, bei Pieterlen war das Bild ziemlich bunt. Steifheit der Mimik, der Bewegungen, des affektiven Rapports, wenn Sie mich verstehen, das heißt, die Brücke zwischen ihm und mir war zerbrochen, nicht nur zwischen ihm und mir, zwischen der ganzen Wirklichkeitswelt und ihm. Was statt dieser Welt da war, kann ich heute nur erraten. Es waren Särge da, es war sein Kind da, es war der Bezirksanwalt da – und Pieterlen sagte, es röche nach Brillantine – es tauchten Sätze aus Büchern auf… Aber das alles existierte nicht wie eine Erinnerung, zu der wir Abstand zu wahren wissen, nein, diese Vergangenheit war jede Minute leibhaftig da, sie sprach zu ihm, sie lebte: Dann war ein Pfleger der Bezirksanwalt, und der Pieterlen tobte, dann war ein Patient seine Frau und der Pieterlen streichelte den Patienten… Dann war manchmal der Teufel da, und der Teufel ähnelte dem Goetheschen Mephistopheles, es war ein literarischer Teufel, und Pieterlen wehrte sich gegen die Sätze des Teufels, und manchmal lauschte er ihnen verzückt, und dann sah er aus, wie ein Säulenheiliger in Ekstase… Das war Unordnung, das war Krankheit… Ich bin Arzt. Ich dachte nicht daran, was mit dem Pieterlen geschehen würde, wenn ich ihn gesund machen konnte. Ich dachte nur, das will ich mit aller nötigen Demut gestehen, ich dachte nur als Arzt daran, den Pieterlen aus seinem Reich herauszuholen, die Stimmen, die ihn plagten, zum Schweigen zu bringen…
Eine sogenannte Schlafkur schien mir indiziert, obwohl verschiedene Überlegungen dagegen sprachen; aber ich versuchte es doch. Ich fütterte den Patienten Pieterlen mit Schlafmitteln und versenkte ihn in eine zehntägige Dauernarkose. Zweck: Abstoppen des Ablaufs der Bilder, der Stimmen. Die Bilder mußten im Schlafe ersäuft werden. Ich spreche ganz einfach zu Ihnen; Kollegen, die mich hören würden, hätten ihren Spaß an mir. Der einzige, der nicht grinsen würde, wäre vielleicht mein alter Chef. Er sah aus wie ein greisenhafter Gnom mit einem Rübezahlbart, und seine Arme waren so lang, daß seine Hände, wenn er gebückt daher lief, an die Kniee schlugen.
Während der Dauernarkose (Jutzeler hat mir dabei geholfen, wissen Sie, der Abteiliger vom B, die andern wären ja dazu unfähig gewesen, es herrschte damals in unserer Anstalt ein Chaos, wie vor der Trennung von Erde und Wasser) magerte mir mein Pieterlen ab. Das war vorauszusehen. Als er nach zehntägigem Schlaf erwachte, spuckte er dem Jutzeler ins Gesicht, und mich biß er in die Hand. Nicht stark. Er war zu schwach… Der Jutzeler mußte sich den ganzen Tag um ihn kümmern, immer um ihn sein, mit ihm spielen, mit ihm spazierengehen, ihn zum Zeichnen anhalten… Aufs Zeichnen hoffte ich… So eine Seele, die aus dem fremden Reich kommt, die aus dem Teiche auftaucht, sie sieht aus wie ein mißratenes Entlein. Schwimmstunden möchte man ihr geben…
Fiasko, um es kurz zu sagen. Ich fütterte ihn auf. Da verweigerte der gute Pieterlen das Essen. Sondenernährung, langweilig! Ich glaubte, er werde mir unter der Hand kaputt gehen.«
Ein Seufzer. Ein Streichholz flammte auf. Laduner nahm einen langen Zug aus der Zigarette.
»Dann plötzlich begann er zu fressen wie ein Scheunendrescher, wurde dicker, hörte auf zu husten. In zehn Tagen nahm er acht Kilo zu. Sonst war seine Lieblingsbeschäftigung das Zertrümmern von Fenstern. Vielleicht dachte er in seiner Verstörtheit, er könne die gläserne Wand zerbrechen, die zwischen ihm und den Dingen und Menschen stand… Und die Stimmen plagten ihn weiter. Er hatte ein ganzes Repertoire von ausgefallenen, unanständigen Schimpfnamen, und sie galten alle dem Bezirksanwalt, und ich hatte die Ehre, diesen zu verkörpern.
Nach drei Wochen versuchte ich die zweite Schlafkur, denn Pieterlen glänzte feist, und die Rechnung für zerbrochene Fensterscheiben stieg trotz allen Vorsichtsmaßregeln. Der Schreiner, der hier die Scheiben einsetzt, arbeitete nur noch fürs B. Ich wollte den Pieterlen nicht ins Bad stecken, ich war eigentlich ganz zufrieden, daß er wenigstens Fensterscheiben zertrümmerte. Er tat immerhin etwas, wenn er auch nur zerstörte. Wie wollen Sie aufbauen, Studer, wenn Sie nicht zuerst zerstören? Fensterscheiben oder andere Hindernisse?
Und die Kur hatte Erfolg. Er erwachte, sah sich um, wie weiland Tannhäuser, als er aus dem Venusberge kam, aber es war ein wirkliches Erwachen, und er blieb wach… Nun sind es vier Jahre her…
Ich sehe, Studer, daß meine psychiatrischen Ausführungen nicht allzu einschläfernd gewirkt haben. Darum erlauben Sie mir noch eine bescheidene Zwischenfrage:
Ein Mörder ist von etlichen rechtschaffenen Männern, die auf Ehre und Gewissen geschworen haben, gerecht zu urteilen, auf zehn Jahre ins Zuchthaus geschickt worden.
Gut; dort ist besagter Mörder verrückt geworden. Einen Kranken straft man in unserer humanen Zeit nicht mehr. Er wird uns übergeben, wir machen ihn gesund, wenn wir geschickt sind. Gesund!… Sagen wir, wir versuchen, ihn wieder geradezubiegen. Er wird also unserer Gewalt unterstellt, der Gewalt der vielgelästerten Psychiater. Er ist im Gefängnis wirklich verrückt geworden, es ist also nicht mehr nur die Möglichkeit da, daß er verrückt werden könnte… Das Urteil ist kassiert worden… Gut. Wir verlästerten Psychiater halten ihn für sozial gesundet, das heißt, man könnte ihn in Freiheit lassen, die Wahrscheinlichkeit, daß er ein ähnliches Verbrechen begehen würde – in unserem Falle also einen Kindsmord – ist vielleicht, sagen wir, 1 Prozent; aber wir dürfen den Mann nicht entlassen. Wir können einen Antrag auf Entlassung erst dann stellen, wenn die Zeit, die er im Zuchthaus hätte verbringen müssen, abgelaufen ist. Wir müssen ihn so lange behalten. Logisch, nicht wahr?
Sie werden mir einwenden, Studer…«
Studer dachte gar nicht daran, etwas einzuwenden. Er hielt noch immer die Armlehnen seines Stuhles umklammert und dachte nur eines: Wann wird das Abrutschen aufhören?… Aber er hielt tapfer aus, er biß die Zähne zusammen, ihm war übel.
»Sie werden mir einwenden, daß es interessantere Menschen gibt, als zu Zuchthaus verurteilte Kindsmörder. Zugegeben. Wir helfen nicht all denen, die es verdienen. Wir sind nicht daran schuld. Wir tun unser mögliches. Aber die Umstände sind stärker – die Umstände: die Behörden, sollte ich sagen… Sie können mich nicht dafür verantwortlich machen, daß es auf der Welt unlogisch zugeht…
Nun, ich habe versucht, dem Pieterlen sein Schicksal zu erleichtern. Er durfte zeichnen, ich sprach oft mit ihm, manchmal lud ich ihn zu mir in die Wohnung ein. Ich lieh ihm Bücher. Als er nach Arbeit verlangte – das war vor einem Jahr nach unserem Silvesterball – und er gern zur Malergruppe gehen wollte, gab ich auch dazu meine Einwilligung, obwohl ich wußte, warum er gerade in diese Gruppe verlangte. Er hatte sich verliebt… Der Pieterlen Pierre, das Demonstrationsobjekt. Ja… Und obwohl ich seinen Geschmack nicht billigen