Gesammelte Werke. Isolde Kurz
entwickelte sich mit den Jahren immer mehr, wie überhaupt ihre ganze Persönlichkeit bestimmt war, erst im höchsten Greisenalter, das bei ihr noch immer quellende Jugend war, eine süße duftende Reife zu erlangen wie eine alleredelste Weinsorte. Damals war sie noch brausender Most und gärte mit ihren Kindern um die Wette.
Was übrigens die zerrissenen Strümpfe betrifft, so gab es deren im Haus nur allzu viele; das mochte meinem Vater das Bild nahegelegt haben. Wenn Mama und Josephine sie nicht mehr bewältigen konnten, so wurde ein großer Pack daraus gemacht und an das geliebte »Waldfegerlein« gesandt, Rudolf Kauslers1 Nichte, so genannt nach meines Vaters gleichnamigem, ihr gewidmeten Gedicht. Sie war die Holdeste von den guten Holden, die unsere Kindheit betreuen halfen, auch äußerlich zart und leicht wie eine Elfe. Sie stopfte die Strümpfe mit Hingebung und mit dem Maschenstich, wonach sie wie neu wurden, und wenn der Pack zurückkam, fiel immer etwas Beglückendes für uns Kleine mit heraus. Die Eltern aber erquickten sich an ihren geistvollen und eigenartigen Briefen, die ganz in der Stille blühten, doch mancher berühmten Briefsammlung nicht an künstlerischem Reiz nachstanden.
Überhaupt, was gab es damals für Freundschaften auf der Welt, und wie lebten sie sich in Briefen aus, verschwenderisch und überschwenglich mit den inneren Gütern schaltend. Um jedes edle Herz stand eine Schutzmauer von Liebe. Die Erde mit all ihren Kümmernissen wäre ja gar nicht bewohnbar gewesen ohne den Engel der Freundschaft, der zwischen den Menschen hin und her ging. Man krittelte und zergliederte auch noch gar nicht, sondern nahm sich gegenseitig so wie man war schlechthin als Ganzes, und liebte sich ohne viel zu tüfteln und zu deuteln. Die psychologische Neugier, die nicht ruhen kann, bis sie einen Charakter in seine Einzelheiten zerlegt hat, kam erst in der jüngeren Geschlechtsreihe auf, und man dünkte sich wunder wie klug, als man zu zerfasern begann. Es fragt sich aber sehr, ob nicht jene die Klügeren waren, die das Leben ganz unbefangen lebten und, vom bloßen Ahnungsvermögen geleitet, gewiss nicht öfter fehlgriffen als die Jungen mit ihrer Weisheit.
Wenn ich an Kirchheim denke, steigt noch ein blasses, aber unverwischbares Bild vor mir auf: eine grüne Festwiese mit Bänken und Tischen, an denen getafelt wurde, und einem sich drehenden Karussell, dem Höchsten von irdischer Seligkeit, was ich damals kannte! Dann ein langer Zug von kleinen weißgekleideten Mädchen, die meisten von meinem Alter, mit Kränzen um die Stirn, je zwei und zwei sich bei der Hand haltend, während von der Wiese her die Musik tönte. Ich war ebenfalls weiß und festlich gekleidet und trug den schönsten Kranz von Maienblumen im Haar, aber ich ging nicht mit im Zug, der aus den Schulkindern gebildet war, sondern stand abseits an der Hand der Mutter, um zuzusehen. Die Brüder waren eingereiht und schritten jeder mit seiner Klasse. An mir aber ging der Zug vorüber, der grünen Wiese, dem Paradiesgarten, dem Feste der ewigen Freude zu. Da überkam es mich plötzlich, was es heißt, »nicht dabei zu sein«. Es war ein maßloser Schmerz wie ein erzwungener ewiger Verzicht auf alle Freuden dieser grünen Erde. Und Mama begriff ihr dummes kleines Mädel nicht, das nur mit Mühe unter Aufbietung allen Stolzes den Tränen wehrte. Kann aber ein Erwachsenes, auch das liebevollste, nachfühlen, was jenes Nichtdabeisein dem Kinde bedeutete?
Und nun läuten auf einmal in meiner Erinnerung Osterglocken. Aus München, wohin mein Vater sich auf ein paar Wochen zu seinem Freund Paul Heyse begeben hatte, kam die Heilsbotschaft, dass wir alle binnen kurzem nach der großen bayrischen Kunstresidenz übersiedeln würden, wo uns endlich ein freies, ein wahrhaft menschenwürdiges Leben erwartete. Dort würden die Eltern einen gleichgesinnten, fein gebildeten Freundeskreis finden, die Buben Mittel zum Studieren, ich die Gelegenheit, das Kunsttalent, das man mir zuschrieb, weil ich noch immer eifrig für mich zeichnete, auszubilden. Die Mutter ging in einem beständigen Glücksrausch umher. Aber das Verheißungsland versank, wie es aufgetaucht war; wie und warum, steht in meines Vaters Lebensgeschichte. Es war der höchste Wellenberg der Hoffnung, den unser Schifflein je erkletterte, und nun schoss es jäh in einen trostlosen Abgrund hinunter, in dem mein rasches Mütterlein schon den Untergang sah. Doch es tauchte wieder auf und schwamm einem nicht so verlockenden, aber sicheren Hafen zu, dem alten Tübingen, wo unser Vater vor Jahresschluss einen Bibliothekarsposten an der Universität antrat.
1 Jugendfreund meines Vaters und gleichfalls Dichter, von ihm unter dem Namen Ruwald in der Novelle Das Wirtshaus gegenüber eingeführt. Damals Pfarrer in Klein-Eislingen. <<<
Das alte Tübingen
Den Ort, an den mich jetzt meine Erinnerung führt, würde man heute auf Erden vergeblich suchen. Zwar hat sich mein altes Tübingen äußerlich nicht allzu viel verändert. Seine Gestalt ist durch den hügeligen Boden, der es trägt, und durch die geschlossenen Linien des mittelalterlichen Städtebaus für alle Zeiten festgelegt. Noch immer spiegelt sich die hohe und steile Giebelreihe der Neckarfront mit dem aus der Asche von 1875 wiedererstandenen Hölderlinsturm in dem still ziehenden Fluss, und unverrückt steht auf der höchsten Hügelkuppe Schloss Hohentübingen mit seiner gestreckten Masse und den stumpfen Türmen, die noch die Spuren Turennes und Melacs am Leibe tragen. Und die beherrschende Stiftskirche aus einem steilen, hochgemauerten Vorsprung reckt sich trotzig wie ein gewappneter Erzengel im Stadtinnern empor. Solche Züge sind unverwischbar. Aber was diesen Zügen in den sechziger und siebziger Jahren ihren ureigenen geistigen Ausdruck gab, die mittelalterliche Romantik, ist für immer daraus verschwunden. Das Studentenleben hat sich in die hässlichen neuzeitlichen Korporationshäuser auf den Anhöhen zurückgezogen, die für die weichen, niederen Hügel viel zu groß sind und laut aus der Harmonie des Ganzen herausfallen. Damals spielte sich dieses Leben noch in den krummen und steilen Straßen ab, wo das Treiben und Tollen niemals ruhte. Zwar seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Trunk, lag der Musensohn, mit Ausnahme der beliebten »Naturkneipereien« auf dem Wöhrd oder dem Schänzle, auch damals im geschlossenen Raume ob, aber die Folgen tobten sich im Freien aus. Es sang und klang straßenauf und -ab, noch öfter brüllte und grölte es. Dann gab es die Anrempelungen mit nachfolgender »Kontrahage« nach dem berühmten Muster: Geschah das mit Vorsatz? – Nein, mit dem Absatz – und solche Scherze mehr. Ferner die Keilereien zwischen Farben, die sich nicht leiden mochten, und endlich die ganz großen Studentenschlachten, wo die gesamte Studentenschaft einmütig gegen die Obrigkeit oder das Philisterium oder was sonst in ihre Vorrechte eingegriffen hatte, zu Felde zog.
Gleichfalls