Gesammelte Werke. Isolde Kurz
auf und begann der Stimme nachzugehen, aber sie schwieg und gab nichts weiter her. Durch Jahre konnte ich nicht erfahren, was es mit dem Reiter und dem Knaben für eine Bewandtnis habe. Nachdenken half nichts, es wehte vielmehr die Schmetterlingsflügel weit hinweg; der Fund musste sich ereignen. Und er ereignete sich wirklich ganz plötzlich einmal im Zug einer wochenlangen lyrischen Erregung, nachdem schon eine Reihe von anderen Gedichten entstanden waren. Von selbst entstanden, aber zurechtgehämmert, denn völlig fertig fallen sie ja nicht vom Himmel, der menschliche Angstschweiß gehört mit dazu. Nun erfuhr ich erst den Inhalt der Ballade »Der schwarze Reiter«, wovon mich zwei umherflatternde Zeilen voreilig gestreift hatten, von dem heimlich verscharrten Geliebten und dem im Mutterleib getöteten Kinde, das seine Mutter ruft.
Die hohe, festlich hohe Zeit solcher lyrischen Offenbarungen wurde jedes Mal zu frühe, wenn noch die Stimmen raunten, durch irgendeinen äußeren Eingriff aus persönlichen Bereichen abgeschnitten; dann half kein Horchen mehr, es war alles jählings zu Ende, und ich konnte mich wieder langsam auf die erzählende Gestaltung umstellen.
Über den Prosaarbeiten fielen je und je gedankliche Splitter ab, die ich nicht mitverarbeitete, um nicht den schwebenden Gang der Erfindung durch zu viel Gedachtes zu belasten. Ich schrieb jedoch zur Erinnerung für mich selber auf, was mir da geblitzt hatte und wofür ich keinen Abnehmer besaß als das Papier. Dabei wurden die Einfälle gelegentlich zu Ausführungen über dies und jenes erweitert, bis eines Tages ungewollt eine ganze Sammlung solcher ungesuchter Eingebungen, teils aus knappen Aphorismen, teils aus längeren Gedankengängen bestehend, fertig lag, die unter dem auf das Eingangsgedicht bezogenen Titel »Im Zeichen des Steinbocks« 1905 erstmalig erschien. Wer heute das kleine Buch, das unlängst bei Rainer Wunderlich in dritter Auflage neu herauskam, stark gekürzt, aber inhaltlich unverändert, zur Hand nimmt, ohne das erste Erscheinungsjahr oder gar die noch früheren Entstehungsjahre zu kennen, der kann leicht auf den Verdacht einer öden Konjunkturhascherei verfallen, wenn er Hinweise und Anschauungen liest, die dem deutschen Weltbild von heute abgelauscht scheinen, ihm aber in Wahrheit um zwanzig Jahre vorangegangen sind. Und wieder einmal muss ich mich verwundern, wie in der kurzen Spanne eines Menschenalters gesellschaftliche und staatliche Wertsetzungen, die für unumstößliche Grundpfeiler gegolten hatten, sich in ihr völliges Gegenteil verkehren können. Was ich als hohes Beispiel an der Stammesethik der Griechen und ihren daraus hervorgehenden eugenetischen Maßnahmen pries, das zog mir den empörten Aufschrei des geistigen Philistertums zu. Jener selbe literarische Gönner an der »Ulmer Post«, der meine ersten Gedichte so warm empfohlen hatte, mit der apologetischen Versicherung, dass ich außer dem Dichten auch das Nähen und Kochen verstünde, sagte mir seine Gunst auf und fand die ausgesprochenen Leitgedanken abstoßend. Heute sind sie zum Teil gesetzgeberische Wahrheiten. Was ich von fernen Jahrhunderten erhoffte, lag von niemand geahnt schon in der Richtung eines unsichtbar näher kommenden Geschehens.
Die Aphorismen, für die ich nicht leicht ein älteres Verlagshaus hätte gewinnen können, wurden Anlass zu meiner Verbindung mit dem eben aufkommenden vielversprechenden Georg-Müller-Verlag in München, der eine sorgfältige Ausgabe veranstaltete mit einer von befreundeter Hand entworfenen Titelzeichnung. Derselben Stelle dachte ich auch das Werk zu, das ich nach langem Verschub jetzt endlich in Angriff nehmen musste, sollte mir nicht die Erinnerung verblassen: die Lebensgeschichte meines Vaters. Es war nicht ganz leicht, außerhalb des Bereichs literarischer Hilfsmittel, bei nur sehr mäßigem Rüstzeug an brieflichem und sonstigem schriftlichem Nachlass, an dieses verantwortungsvolle Unternehmen heranzutreten. Ich verließ mich dabei vor allem auf das ausgiebigere Gedächtnis der zwei älteren Brüder, von denen ich hoffte, bei den nächsten Sommerferien in Forte dei Marmi, wohin auch Alfred des öfteren zu Gaste kam, manche wesentlichen, von mir vergessenen oder vielleicht gar nicht gekannten Züge erkunden zu können. Aber jetzt eben holte das Schicksal zu dem Schlage aus, der den ganzen Neubau meines Lebens im Grund erschüttern und in seinen Folgen eine weite Verwüstungszone um mich schaffen sollte.
Am 27. April 1904 schied Edgar nach nur vierzehntägiger Krankheit aus dem Leben. Man hatte ihn nicht mehr bettlägerig gesehen seit unseren gemeinsamen Kinderkrankheiten; alle Anfechtungen seiner zarten und durch eine überängstliche Erziehung noch verzärtelten Körperanlage hatte er mit eisernem Willen stehend und gehend in voller Tätigkeit überwunden. Mit dem dämonisch gespannten Blick des delphischen Wagenlenkers, der seine Rennbahn misst, ohne rechts und links zu sehen, hatte er jederzeit seinen Wahlspruch »Ich will« zum Siege geführt. Auch der Todeskrankheit, einer doppelseitigen Lungenentzündung, hatte er sich erst im letzten Stadium ergeben. Ja, er war noch einmal aufgestanden, um einen Schwerkranken zu besuchen, der seinen Arzt um einen Tag überleben sollte. Edgar war der mutigste Mensch, den ich je gekannt habe, denn zu dem durch Selbstzwang gestählten physischen Mut, der zu seiner physischen Kraft außer Verhältnis stand, gesellte sich bei ihm der seltenere Mut des Gedankens und der allerseltenste: der sittliche Mut zur Verantwortung jeder Art. Unfassbar war es für die Angehörigen, diesen Menschen, der überallhin als Helfer und Retter kam, jetzt vor sich zu sehen in der Hilflosigkeit der Krankheit. Die befreundeten Ärzte wussten sich nicht zu raten; er selber sah wohl, dass er in ungenügenden Händen war, weil keiner seinen durchdringenden Scharfsinn besaß. Es fehlt die Logik, sagte er zu mir, als er sich einen Augenblick mit mir allein sah, wenn ich doch selber den Verlauf besser überwachen könnte. Er verfolgte wohl die Symptome, aber das Fieber hatte ihn im Bann, dass er die Gedanken nicht klar zu halten vermochte. Die Muse aber blieb ihm zur Seite; noch wenige Tage vor der Auflösung übergab er seiner Mutter eine mit sicherer und scheinbar müheloser Sprachkunst geschmiedete Übersetzung eines Horazischen Gedichts. Nach dem letzten schweren Röcheln, im Augenblick wo der Atem stillstand geschah etwas Unfassbares: als ob eine Hand blitzschnell über die eben noch tiefbeseelten Züge, die im letzten Kampf noch leuchtenden dunkelblauen Augen hinführe und jeden Ausdruck wegwischte, dass nichts übrig war als ein bleiches ausgeleertes Wachsbild. An keinem anderen Sterbebette war je vor meinen Augen diese Wandlung eingetreten, die mir den oft gehörten Ausdruck: »der Geist entfloh« so unbezweifelbar in seiner Wahrheit vorführte: ich hatte ihn wirklich und tatsächlich entfliehen sehen, mit solcher Schnelle, wie es nur bei ihm, dem Schnellsten, geschehen konnte. Wo war er hin, dass auch nicht die blasseste Spur seines Wesens