Gesammelte Werke. Isolde Kurz

Gesammelte Werke - Isolde Kurz


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eine ganz im al­ten Sin­ne des Tal­mud ge­fass­te »Li­lith« ge­dich­tet, Spät­ling ei­ner müde ge­wor­de­nen Fe­der, aber ihm viel­leicht ge­ra­de des­halb be­son­ders ans Herz ge­wach­sen; so konn­te er nicht wohl un­be­fan­gen ur­tei­len. Er er­klär­te die Poe­sie für nicht be­rech­tigt, eine Sa­gen­ge­stalt in ihr völ­li­ges Ge­gen­teil um­zu­deu­ten, was sich durch den blo­ßen Hin­weis auf Eu­ri­pi­des wi­der­le­gen ließ, der es hat­te wa­gen dür­fen, sei­nen Grie­chen die Ehe­bre­che­rin He­le­na als ein Mus­ter der Gat­ten­treue vor­zu­füh­ren. Mein Rück­schluss aus der »Frau Ve­nus« als mit­tel­al­ter­li­cher Teu­fe­lin­ne auf eine ähn­li­che Ver­zer­rung der Li­lith ins Dä­mo­ni­sche goss nur Öl ins Feu­er, weil man da­mals nicht ge­wohnt war, fest­ge­stell­te Män­ner­mei­nun­gen durch eine Frau sach­lich wi­der­le­gen zu hö­ren. Die­se Geg­ner­schaf­ten ge­reich­ten dem Buch zum dau­ern­den Scha­den, den auch der größ­te pri­va­te Bei­fall zu­stän­di­ger Rich­ter nicht aus­glei­chen konn­te, denn was sich zu sei­nen Guns­ten in der Öf­fent­lich­keit re­gen woll­te, wur­de ab­ge­bla­sen und das Ge­dicht dem Tot­schwei­gen über­ant­wor­tet.

      Ich hat­te kei­ne Zeit mich über das böse Schick­sal ei­nes mei­ner Lieb­lings­kin­der zu här­men, denn gleich setz­te der kal­te Sturm­wind mei­nes Le­bens, der mich un­auf­hör­lich in mei­nem In­fer­no um­her­trieb, wie­der ein. Wer je er­fah­ren hat, was es heißt, an je­dem Mor­gen beim Er­wa­chen nach dem Nach­bar­bett hin­über­zu­hor­chen, ob der ge­lieb­tes­te Mund noch atme oder ob die Stil­le, die eben von dort her­über­weht, schon die letz­te sei, wird mich ver­ste­hen.

      So wur­den die »Kin­der der Li­lith« die letz­te grö­ße­re Ar­beit, die ich zu Leb­zei­ten mei­nes Müt­ter­leins fer­tig­brach­te, ab­ge­se­hen von den »Flo­ren­ti­ni­schen Erin­ne­run­gen«, die ein Jahr spä­ter er­schie­nen, aber zum grö­ße­ren Teil schon frü­her in der glück­li­chen Via de’ Bar­di ge­schrie­ben wa­ren. Auch ent­stand noch ab und zu in Pau­sen der Krank­heit et­was Kür­ze­res, aber ich war doch wie ein Schwim­mer, der nur einen Arm ge­brau­chen kann, weil den an­de­ren eine ge­lieb­te Last an der Be­we­gung hin­dert. Dass ich nur un­ter dem un­mit­tel­ba­ren Zwang der Ein­ge­bung schrei­ben konn­te, mach­te jede ge­woll­te Aus­schlach­tung der er­lang­ten Ge­wandt­heit, die not­wen­dig den Druck des Au­gen­blicks hät­te zei­gen müs­sen, un­mög­lich. Das war in je­dem hö­he­ren Sin­ne mein Glück: »es has­set der sin­nen­de Gott un­zei­ti­ges Wachs­tum«. Aber es stell­te mein Da­sein auf im­mer schma­le­re Ba­sis, und kaum wa­ren noch die Mit­tel da­für zu er­schwin­gen. Nur dann und wann in ih­rem letz­ten Le­bens­jahr gab es bei vor­über­ge­hen­dem Still­stand des Lei­dens, das, wie ich glau­be, von den Ärz­ten nicht rich­tig ge­deu­tet war, einen flüch­ti­gen Freu­den­schim­mer wie ein paar Goe­the­tage in Wei­mar oder eine Do­lo­mi­ten­wan­de­rung mit Wel­trich. Das zei­tig­te schnell nach­ein­an­der zwei No­vel­len, die noch ein­mal aus dem Vol­len ge­schöpft wa­ren, der »Strah­len­de Held« und die »Al­le­gria«. Dass ich sie ihr noch vor­le­sen durf­te und sie da­mit in eine neue Ju­gend­span­nung zu­rück­ver­set­zen, war die letz­te große Freu­de un­se­res Zu­sam­men­le­bens. Von der »Al­le­gria«, die sie an al­ler­lei Mi­ter­leb­tes er­in­ner­te, woll­te ich den Schluss nicht mehr le­sen, weil es trau­rig ende. Ihre Ant­wort, das Trau­ri­ge sei ja eben das Schö­ne, zeig­te mir wie­der ein­mal ganz, wie tief sie in al­lem Dich­te­ri­schen zu Hau­se war.

      Sie wohn­te um jene Zeit bei Er­win in Mün­chen und ich im Erd­ge­schoss ei­nes Nach­bar­hau­ses, so­dass ich im­mer zu ihr konn­te und sie zu mir. Nur wäh­rend ich an den zwei No­vel­len schrieb, brauch­te ich mehr Zeit für mich. Das war ihr un­na­tür­lich, denn es zog sie wie mit Ket­ten her­über; ihre kla­gen­den Zet­tel die zu mir flo­gen zer­ris­sen mir das Herz. Noch im­mer lief sie wie im Flug ihre drei ho­hen stei­len Trep­pen her­un­ter zu mir ins Nach­bar­haus, so­bald die vor­über­ge­hen­de Sper­re auf­ge­ho­ben wur­de, und war je­des Mal frü­her da als ver­ab­re­det. Ihr Mor­gen­be­such an mei­nem letz­ten Ge­burts­tag, den sie er­leb­te, war das Rüh­rends­te was sich den­ken ließ. Sie hat­te noch im­mer die Ge­wohn­heit bei­be­hal­ten, mich an die­sem Tag mit ei­nem bren­nen­den Weih­nachts­bäum­chen aus dem Schlaf zu we­cken. Das Bäum­chen war im Lauf der Jah­re klei­ner und klei­ner ge­wor­den, dies­mal war es nur noch ein in den Topf ge­setz­tes Tan­nen­reis mit ein paar ar­men Wachs­lich­tern dar­auf, aber in die­sen brann­te die gan­ze un­end­li­che Lie­be ei­ner Mut­ter.

      In die­ser Zeit der ab­neh­men­den Kör­per­kraft muss sie die Er­kennt­nis mit Schre­cken durch­drun­gen ha­ben, in wel­cher Ver­ein­sa­mung ich zu­rück­b­lieb, nach­dem ich alle die Jah­re her, fast ganz vom Ver­kehr ab­ge­schnit­ten und je­der an­de­ren Bin­dung be­raubt, nur noch für sie ge­lebt hat­te. Ohne mein Wis­sen be­gann sie nach al­len Sei­ten Brie­fe zu schrei­ben, die Ver­trau­ens­wer­tes­ten un­ter den Freun­den auf mich zu ver­ei­di­gen, um einen Schutz­wall von Lie­be und Treue um mich auf­zu­rich­ten für die Zeit, wo sie nicht mehr sein wür­de. »Den­ke nicht mehr an mich, ich bin dei­ne Ver­gan­gen­heit«, schrieb sie ein­mal im letz­ten Herbst ih­res Le­bens, als ich mich vor­über­ge­hend bei ei­ner Freun­din auf dem Lan­de auf­hielt. Was mag ihr ein sol­ches Wort ge­kos­tet ha­ben. Jene irr­ten, die mich nach­mals er­mahn­ten, ihr die so sehr er­sehn­te Ruhe zu gön­nen: nur in der ge­fass­ten Stär­ke ih­res Ge­dan­kens trug sie den Tod mit sich und äu­ßer­te sich so auch in Brie­fen, ihr Ge­fühl stieß ihn im­mer aus, denn sol­che Le­bens­fül­le hat kei­ne wah­re Ge­mein­schaft mit dem Nicht­mehr­sein. Im Kreis der En­kel war sie noch im­mer die Jüngs­te und La­chends­te. Und wenn Tho­le sie auf der Trep­pe traf, so pfleg­te er sie fest­zu­hal­ten, da­mit sie »zur Scho­nung sei­ner Lun­ge« die Stu­fen lang­sa­mer neh­me. Ge­gen das Früh­jahr wur­de eine Woh­nung im Hau­se frei, die ich mie­te­te und mit ei­ni­gen ge­lie­he­nen Mö­bel­stücken aus­stat­te­te, denn mein ei­ge­ner Haus­rat mo­der­te schon im sieb­ten Jahr in dem Gar­ten­pa­vil­lon, wo ich ihn bei Freun­den in Flo­renz un­ter­ge­stellt hat­te. In die­ser Woh­nung soll­te sich das Letz­te er­fül­len. Die Früh­jahr­s­stür­me Mün­chens, die ihr so schreck­lich wa­ren, nah­men ihr durch die Wän­de hin­durch den Atem, sie saß Näch­te lang nach Luft rin­gend und ich sie im Arm hal­tend, ihr den Rücken rei­bend, ihr Sau­er­stoff zu­füh­rend. Das wa­ren Jam­mer­näch­te. Nun kam die Un­ru­he der Schei­den­den über sie, ver­mischt mit dem Drang nach dem ge­lieb­ten süd­li­chen Land, wo sie drei­und­drei­ßig Jah­re lang ge­lebt hat­te und wo drei ih­rer Söh­ne schon den lan­gen Schlaf schlie­fen. Dor­thin woll­te sie jetzt mit al­ler Kraft ih­rer See­le, sich zu ih­nen le­gen. Wel­ches Fe­ge­feu­er eine sol­che Rei­se ins Ster­ben für mich ge­we­sen wäre, stell­te sie sich nicht vor; wir be­sa­ßen ja in Flo­renz kei­ne Heim­statt mehr, und wo mag man Gäs­te auf­neh­men, die mit sol­cher Aus­sicht kom­men? Ein­zig For­te de’ Mar­mi konn­te noch ein­mal das Rei­se­ziel sein, aber auch nur, wenn der Strand von den Som­mer­gäs­ten be­wohnt war und der ärzt­li­che Freund uns nahe, denn sonst gab es kei­ne Hil­fe dort, und zu je­ner Zeit noch nicht ein­mal eine rich­ti­ge Apo­the­ke. Die Kran­ke muss­te sich also auf den Früh­som­mer ver­trös­ten las­sen, und ich be­gann auch wirk­lich noch ein­mal die vor­läu­fi­gen An­stal­ten zu tref­fen. Ich hielt mich noch im­mer an dem Pakt, den ich mit dem Schick­sal ge­schlos­sen hat­te, fest: dass sie nicht ster­ben dür­fe noch kön­ne, so­lan­ge ich mich mit mei­ner gan­zen See­len­kraft da­ge­gen zu set­zen ver­möch­te. Es mag wie ein Wahn­sinn klin­gen – viel­leicht war in je­nen Ta­gen


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