Gesammelte Werke. Isolde Kurz
anderwärts gesehen hatte, weil es dann hübscher aussehen und länger halten würde, ließ sie mich ärgerlich an, ich solle mein Herz nicht an solchen Kleinkram hängen, sondern froh sein, dass ich mich geistig beschäftigen dürfe. Zugeben muss ich heute, dass die Handtücher jetzt doch zerrissen wären und dass die geistigen Werte, die sie uns gab, festen Bestand hatten. Aber damals machte es mich oft traurig, dass sich gar kein Austrag zwischen den höheren Aufgaben und der Welt des Irdischen finden ließ. Und wenn ich gar einmal, von einem Besuch bei auswärtigen Freunden heimkommend, eine dort gefundene Ordnung oder Verbesserung im eigenen Hause einführen wollte, so konnte sie ernstlich böse werden und mir drohen, sie würde mich niemals wieder in fremde Häuser gehen lassen. Sie pflegte dann in ihrer drastischen Weise zu klagen, dass ich meine Gaben nur hätte, um dümmer zu sein als das dümmste Frauenzimmer. In solchen Fällen stieß ich sogar auf den Widerstand Josephinens, die in ihrem eigenen Tun noch immer so pünktlich und geordnet war, wie sie es im Brunnowschen Hause gelernt hatte, die aber mit solcher Leidenschaft an ihrer Herrin hing, dass sie nur mit ihren Augen sehen konnte. Ganz mit mir zufrieden wurde mein gutes Mütterlein erst, wenn ich endlich, nach vergeblicher Bemühung, Ordnung zu stiften, entmutigt die Arme sinken ließ. Dann saß man wieder inmitten des häuslichen Durcheinanders, das einen nichts mehr anging, weltentrückt wie die indischen Weisen unter ihrem Urwaldbaum, und sie redete zu mir über das Woher und Wohin, vor allem über das Warum des Lebens. Denn in dieses zuckende, rastlose Flämmchen war ein ganz stiller, einsamer Denker eingeschlossen, der immerzu über die letzten Geheimnisse grübeln musste. Die materialistische Weltauffassung, die damals der Philosophie den Boden wegnahm, befriedigte sie im Innern keineswegs. Das Rätsel des Todes machte ihr lebenslang zu schaffen. Sie prüfte unablässig alles Für und Wider der Gründe für ein Fortleben. Natürlich kam sie niemals zu einem Schluss, und es hing ganz von ihrer augenblicklichen inneren Verfassung ab, ob sie mehr dem Ja oder dem Nein zuneigte. Dass sie glühend das Ja ersehnte, um ihre Liebe noch über das Erdenleben hinaus zu betätigen, war für sie doch kein Grund, ihr Denken nach ihren Wünschen einzustellen. Sie erzählte mir oft, dass sie sich einmal mit einer Bekannten, Frau H. aus Esslingen, das Wort gegeben hatte, welche vor der anderen stürbe, die wolle der Überlebenden ein Zeichen geben. Frau H. starb, und in einer der nächsten Nächte sah meine Mutter sie am Ende eines langen Ganges vorübergehen und ihr zunicken. Sie verstand gleich, was das Nicken bedeute, aber beim Erwachen erwachte auch der Zweifel. Weshalb sollte mir Frau H. erscheinen, sagte sie, und meine Mutter nicht, die mich so unendlich geliebt hat? Denn auch ihre Mutter hatte ihr ein solches Versprechen gegeben, und sie hatte nach ihrem Tode bestimmt auf eine Erscheinung gewartet. Als sie in der Nacht an ihrem Bette plötzlich ein Licht aufblitzen sah, dachte sie: das ist sie! Und lag mit klopfendem Herzen regungslos, um das Licht nicht zu verscheuchen, das immer um sie blieb und bald da, bald dort erschien. Aber am Morgen sah sie einen toten Leuchtkäfer auf dem Gesimse liegen und wartete fortan nicht mehr. Seit dieser Enttäuschung lehnte sie alle Mystik entschieden ab, wiewohl ein mystischer Zug unter dem Grunde ihres Bewusstseins lag. Sie hatte auch wahrsagende Träume, die sich seltsamerweise meist auf Nebensächliches bezogen, wie verlegte Gegenstände, deren Versteck ihr der Traum zeigte. Bisweilen hatten aber diese Träume auch bedeutenderen Inhalt, und einen davon werde ich an einer späteren Stelle erzählen. Es gab übrigens noch einen anderen geheimnisvollen Punkt in ihrem Seelenleben, über den sie sich nur selten und mit größter Zurückhaltung äußerte. Sie sagte mir nämlich wiederholt auf ganz verschiedenen Altersstufen, dass sie ein Dämonium wie das des Sokrates habe, das mitunter sehr nachdrücklich und stets in abmahnender oder missbilligender Weise zu ihr spreche. Mehr erfuhr ich nicht und fragte auch nicht weiter, um eine solche Gabe, die bei ihrem Ungestüm gewiss wohltätig war, nicht durch Beschreien zu stören. Ich weiß aber, dass sie sich auch zu anderen andeutungsweise über die Sache geäußert hat.
Ich hatte damals für ihre immer wiederkehrende Faustische Klage, ›dass wir nichts wissen können‹, wenig Sinn. Die Tatsache unseres Hierseins war mir noch so neu und merkwürdig, dass ich nicht nach dem Woher und Wohin und am allerwenigsten nach dem Warum fragte. Dagegen liebte ich es, ihre Philosophie durch ganz spitzfindige Fragen zu bedrängen, wie diese: ›Gesetzt, Papa hätte eine andere Frau genommen und besäße von ihr eine Tochter, du aber hättest einen anderen Mann und gleichfalls eine Tochter von ihm, welche von den beiden Töchtern wäre dann ich?‹ – Närrchen, dann wärest du eben überhaupt nicht vorhanden. – Das war mir nicht vorstellbar: Vielleicht wäre ich zweimal da, jedes Mal mit einer falschen Hälfte verbunden? – Aber, Kind, du redest ja den reinen Unsinn. – Oder wären die zwei vielleicht meine Schwestern? – Das wollte sie eher gelten lassen. – Aber, Mama, wenn ich gar nicht bin, wie kann ich dann Schwestern haben?! – Die philosophische Untersuchung endigte zuletzt, wie philosophische Untersuchungen immer enden sollten, mit einem Lachen.
Gänzlich unberührt vom häuslichen Wirrwarr lag des Vaters Studierzimmer. Dort waltete ich in seiner Abwesenheit ganz allein als Hüterin des Tempelfriedens. Schon in seinen frühen Ehejahren hatte er sich’s ausbedungen, dass keine Hand in häuslicher Absicht sein Schreibepult berühre (er arbeitete immer stehend), bis seine Tochter daran heraufgewachsen sei. Sobald meine Größe es erlaubte, trat ich mein tägliches Amt an, das Pult zu säubern und die Studierlampe in Ordnung zu halten. Es war dies so ziemlich die einzige häusliche Verrichtung, zu der ich überhaupt zugelassen wurde. Die wenigen Male, die ich sie gedankenlos versäumte, blieben mir schwer auf der Seele, denn dass er beim Nachhausekommen schweigend und ohne ein Wort des Vorwurfs nach dem Petroleumkännchen griff, hinterließ mir einen viel tieferen Eindruck, als es der schärfste Tadel vermocht hätte.
Wer nun aber aus der Gleichgültigkeit meiner Mutter gegen die äußeren Lebensbedingungen schließen wollte, sie sei meinem Vater auch eine schlechte Geldverwalterin gewesen, der würde gröblich irren. Sie verstand sich auf das Einteilen und Sparen in einer Weise, die auch noch im Weltkrieg vorbildlich wäre. Fast ohne Mittel fünf Kinder aufzuziehen, zu ernähren, zu kleiden, war oft eine nahezu unlösbare Aufgabe; sie hat sie dennoch gelöst, still, selbstverständlich, in höchster Würde, und, was mehr ist: in unerschöpflicher Freudigkeit. Das Glück, an seiner Seite zu leben, vergütete ihr jede Beschwerde. Ich erinnere mich nicht, dass es uns Kindern je am Nötigen gefehlt hätte. Auch kleine Freuden und Erholungen wurden uns nie versagt; wer zu kurz kam, war immer nur sie selbst. Daneben hatte sie die offenste Hand für alle Bedürftigen; sie wartete