Reise durchs Baltikum nach Russland und Sibirien 1829. Alexander von Humboldt
– und auch für die Hilfe anderer. Er ließ beispielsweise die demotische Grammatik des Schülers Heinrich Brugsch auf seine Kosten drucken. Später, ab 1840, hat vor allem Friedrich Wilhelm IV., der seine politische Gesinnung hinnahm, immer wieder seine Privatschatulle geöffnet, wenn er zur Hilfe anderer eintrat. Ging es gar nicht anders, hat er den Beistand eines Zuckerindustriellen und sehr wahrscheinlich auch August Borsigs in Berlin erhalten.
Im Potsdamer Schloss sagte er zu dem geographisch hochgebildeten Julius Fröbel im Mai 1843: »Der größte Fehler der deutschen Geschichte ist, dass die Bewegung des Bauernkrieges nicht durchgedrungen ist.« (Hanno Beck, Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 192). Dieses Zitat hat die eben angeführte Ausgabe der Gespräche Humboldts gerettet, nachdem ihr Druck im Druckhaus Maxim Gorki in Altenburg in Thüringen wegen der vielen Namen von Königen und Adligen, die auch in dem Werk vorkamen, zu scheitern drohte. Die Herausgabe des Werkes in der DDR erfolgte übrigens mit Genehmigung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bad Godesberg bei Bonn für die Alexander von Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften, ebenfalls mit Bewilligung der DFG.
Dass ein solcher Mann nun vom Zaren Nikolaus I., dem »Gendarmen Europas« (regierend 1825 – 1855) eingeladen wurde, und zwar zu einer Unternehmung, die seine letzte Forschungsreise wurde, verurteilte ihn zu besonderer Vorsicht. Die Ehefrau des Zaren, Charlotte Prinzessin von Preußen, war die älteste Tochter König Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise. Auch dieser König war Humboldt zweifellos entgegengekommen. Dies alles brachte uns nun um den kritischen Reisebericht, den gerade jene letzte Forschungsreise verdient hatte. Notgedrungen vertraute Humboldt seinem Reisebegleiter Gustav Rose (1798 – 1843), einem durchaus fähigen Mineralogen, diesen Bericht an. Wenn der Leser auf Seite 31 sein Bild betrachtet, ahnt er wohl, dass er seine Feder samtweich um alle brennenden Probleme geführt hat. Gerade einmal hat sich seine schwache Feder ein wenig gesträubt, als er den unwürdigen Zustand eines Leuchtturmes auf einer Insel im Kaspi-See kritisierte. Später haben beide Reisebegleiter ihre Berichte maßlos vertrödelt und hinausgezögert.
Jetzt wird wieder die Frage vor allem von jenen gestellt werden, die nicht mehr lesen, aber über Humboldt urteilen: Was denn diese Russlandreise des Jahres 1829 nun eigentlich noch wert sei? Liege sie nicht im Schlagschatten der amerikanischen Expedition?
Seit der Rückkehr aus Amerika hatte sich Humboldt immer wieder mit Fragen der asiatischen Geographie beschäftigt. An Kenntnis der großartigen englischen Himalaya-Forschung kamen ihm nur sehr wenige gleich. So hatte er zuerst die Höhe der Schneegrenze an der Nord- und Südseite des Himalaya geklärt und überraschenderweise auf der Nordseite höher gefunden als auf der Südseite – was heute noch immer häufig angenommen wird! Dies war eine fantastische Leistung, die schließlich allgemeine Anerkennung fand. Ebenso ist die Anteilnahme Humboldts an der frühen bedeutsamen Russlandforschung deutscher und zunehmend russischer Forscher sowie das sich andeutende Bemühen das Russische zu erlernen (vgl. dazu: Ingo Schwarz und Werner Sundermann, 1999) leicht nachweisbar. Ohne eine lange geistige Vorbereitung hat Humboldt seine Reise nicht angetreten.
Seit 1959 habe ich in mehreren Werken und Aufsätzen auf die Bedeutung der Russlandreise hingewiesen, brachte sie doch die Krönung der Physikalischen Geographie, deren Gehalt sich aus der gesamten Lebensarbeit Humboldts schon bis 1828 konstituiert hatte.
Meine erste Rekonstruktion der Reise 1829 war im zweiten Band meiner Humboldt-Biografie 1961 erschienen. Sie hatte zu vielen Anrufen und Briefen geführt, und das Echo verstärkte sich weiter, als die erweiterte und verbesserte Fassung 1983 in der EDITION ERDMANN erschien. Schon ein Jahr später kam eine erneut überarbeitete Auflage, der bis 1999 weitere drei Auflagen folgten, sodass nun im Jubiläumsjahr 2009 die 6. Auflage herauskommt.
Das alles ergab sich, weil seit 1959 endlich die geringe oder gar ablehnende Bewertung sukzessive einer neuen Einschätzung wich. Seit dieser Zeit hatte ich immer wieder auf jenen Wandel hingewiesen, der nun im Zuge der Renaissance Humboldts auch der Beurteilung der Russlandreise zugute kam. Diese Forschungsreise führte Humboldt schließlich zur Höhe seiner Physikalischen Geographie, die ihm erst die Idee seines Physikalischen Atlasses und die spät entstandene »Kosmos«-Idee erleichterte.
Die neue Bewertung der Russlandreise hat sich seit 1959 stufenweise vollzogen:
Schon zum Gedenkjahr 1959 hatten sich mehrere Gelehrte mit der Russlandreise in Festschriften und Aufsätzen beschäftigt.
Bereits 1959 hatte ich vom russischen Reisewerk A.v. Humboldts gesprochen, worunter ich den Inbegriff aller von ihm selbst und seiner beiden Reisebegleiter publizierten Darstellungen verstand. Das wurde erst nach der Jahrhundertwende aufgegriffen. Nötig wäre hier zunächst eine exakte bibliographische Übersicht, die zur Vergegenwärtigung eines zusammengehörigen Ganzen beitragen würde.
Vielen neueren Autoren wurde noch nicht deutlich, dass Humboldt die Diamantenfunde im Uralgebiet nur voraussagen konnte, weil er sich bei Wilhelm Ludwig von Eschwege, den er seit 1821 persönlich kannte, entsprechende Hinweise brieflich beschafft hatte. Der Hesse galt neben Prof. Moritz Engelhardt in Dorpat als bester Diamantenkenner seiner Zeit. Beide Gelehrte sprachen stets im Zusammenhang von Brasilien von den möglichen Funden (siehe dazu meinen Beitrag in der Festschrift der Deutschen Akademie, 1959).
In balten- und russlanddeutschen Familien existierten Berichte von Vorfahren, denen Humboldt begegnet war. Manches erwies sich als Legende: So hat sich etwa nicht bestätigen lassen, dass der Zeichner Hermann Friedrich Waeber, ein Pfarrerssohn (1761-1835), von Humboldt zur Teilnahme an der Reise aufgefordert wurde. Anderes wiederum hat sich durchaus bewahrheiten lassen: In seinem Tagebuch hat z.B. der fähige polnische Geologe Tomasz Zan mitgeteilt, er sei am 25.09.1829 während eines Gastmahles in Orenburg Humboldt empfohlen worden, der ihn dann auch ansprach. Leider konnte Zan mit dem Deutschen nur über seinen Reisegefährten Ernst Hofmann (1801 – 1871) kommunizieren und ihn fragen, »ob Polen ihre Dienste bei meteorologischen Beobachtungen anbieten dürften«, was Humboldt »höflich entgegennahm«. Wir erfahren nichts über durchaus mögliche gemeinsame Messungen, und wahrscheinlich hat der sympathische und viel zu zurückhaltende Pole aus Bescheidenheit nicht gesagt, dass seine Landsleute Adamzy Suzin, Alojzy Pielak und er selbst bereits jahrelang Beobachtungen und Messungen in der Orenburger Natur durchgeführt und Gregor von Helmersen und Ernst Hofmann zur Verfügung gestellt hatten –, damit konnten sie auch Humboldt zugänglich gewesen sein (siehe dazu die vorzügliche Studie von Krzystof Zielnicas in den Literaturergänzungen). T. Zan hätte durchaus eine größere Hilfe von Humboldt erwarten dürfen, wäre nicht zu seiner Bescheidenheit noch die Sprachbarriere hinzugekommen. Einer seiner Freunde, Jan Witkiewicz, dagegen hat diese Hilfe tatsächlich erfahren, wie der Leser des vorliegenden Buches feststellen wird. Den eindeutigsten Hinweis auf eine klare Beziehung erhielt ich von der Leiterin des Ortsverbandes der Humboldt-Gesellschaft in Göttingen, Frau Medizinaldirektorin Dr. Maria von Nerée-Loebnitz, deren Mutter eine geborenen Gräfin Polier war. Der Graf Adolph Compte de Polier (1795-1830) war mit der Fürstin Varvara (Barbe, Barbara) Schachowskoi (1795-1830) verheiratet. Die Frau brachte einen stattlichen Grundbesitz in die Ehe mit »ganz in der Nähe der Gouvernement-Stadt Perm liegt Werchne Mulinsk, ein größeres Dorf. Hier befand sich die Hauptverwaltung der gesamten Uralischen Besitzungen der Gräfin Polier« (Darüber Graf Ferdinand von Polier 1963 in den Literaturergänzungen). Den Graf Polier kannte Humboldt aus Paris und traf ihn 1829 in Sankt Petersburg wieder, wo er ihm »eine Sammlung von Sanden« zeigte, die »kostbare Metalle« im Distrikt der Hüttenwerke Bissersk enthielten. »Herr von Humboldt fand, dass diese Sande eine große Analogie mit denen haben, die, in Brasilien, Diamanten enthalten«. (H. Beck, Gespräche Alexander von Humboldts, 1959, S. 100). Auch dem Grafen Polier wird der Leser wiederbegegnen.
Ein Bericht über einen besonders törichten Polizeimeister der kleinen Stadt Ischim wurde später sogar in der Bundesrepublik Deutschland als Herabsetzung Russlands und als Fälschung bezeichnet. Alle, die darin Antirussisches sehen wollen, müssen daran erinnerst werden, dass Dummheit zu den unausrottbaren Phänomenen aller Kulturvölker gehört. Die heutigen Kulturstaaten kennen z.B. alle einen leider stetig wachsenden Analphabetismus und Menschen, die den Dreisatz mit einer Sportart verwechseln, oder Studenten, die nach nunmehr zwei Dezennien der Wiedervereinigung nicht die Namen der neuen Bundesländer kennen, und, und, und…(siehe hierzu in den angeführten Gesprächen Alexander von Humboldts