Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
sagte der Schatten.
»Horch!« riefen die anderen Schatten.
»Horch!« sagte die kindliche Stimme.
Eine feierliche Weise von vielen Stimmen klang in den Turm hinauf.
Es war eine sehr leise, klagende Weise, ein Totenlied. Und als er lauschte, hörte Trotty sein Kind unter den Sängern.
»Sie ist tot«, rief der alte Mann aus, »Meg ist tot. Ihr Geist ruft mir zu. Ich höre es.« ^
»Der Geist deines Kindes beweint die Toten und mischt sich unter die Toten – tote Hoffnungen, tote Einbildungen, tote Träume der Jugend«, entgegnete die Glocke, »doch sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne von dem Wesen, das deinen Herzen am teuersten ist, wie böse die Bösen von Natur sind. Siehe, wie eine Knospe, ein Blatt nach dem andern von dem schönsten Stengel gepflückt wird, und siehe, wie kahl und elend er wird. Folge ihm! Zur Verzweiflung!«
Jeder der Schatten streckte seinen rechten Arm aus und zeigte niederwärts.
»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter«, sagte die Gestalt; »geh, er steht hinter dir.«
Trotty wandte sich um und sah – das Kind! Das Kind, welches Will Fern auf der Straße getragen hatte! das Kind, das Meg behütet hatte, das aber jetzt schlief.
»Ich trug es heute Abend selbst«, sagte Trotty, »in diesen Armen.«
»Zeige ihm, was er ›selbst‹ nennt«, sagten die dunklen Gestalten, eine wie alle.
Der Turm tat sich zu seinen Füßen auf. Er blickte nieder und sah seine eigene Gestalt auf dem Boden liegen, draußen, zerschmettert und bewegungslos.
»Kein lebender Mann mehr«, sagte Trotty. »Tot!«
»Tot!« wiederholten alle Gestalten zugleich,
»Gütiger Himmel! und das neue Jahr?«
»Vorüber«, sagten die Gestalten.
»Wie?« sagte er schaudernd. »Ich verfehlte den Weg, kam im Dunkeln an die Außenseite des Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahre?«
»Vor neun Jahren«, entgegneten die Gestalten.
Während sie diese Antworten gaben, zogen sie ihre ausgestreckten Hände zurück, und wo ihre Gestalten gestanden hatten, da waren nun die Glocken wieder.
Und sie läuteten, da ihre Zeit wieder gekommen war. Und wiederum erwachten ungeheure Scharen von Phantomen zum Leben, wiederum waren sie ohne einen Zusammenhang beschäftigt, wie sie es gewesen waren. Wiederum verschwanden sie, als die Glocken verstummten, und schrumpften zu einem Nichts ein.
»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht wahnsinnig bin, wer sind sie?«
»Geister der Glocken. Ihre Klänge in der Luft«, entgegnete das Kind. »Sie nehmen die Gestalten und Beschäftigungen an, die die Gedanken und Hoffnungen der Sterblichen und die Erinnerungen, die sie gesammelt haben, ihnen geben.«
»Und du«, sagte Trotty verwirrt – »wer bist du?«
»Still, still«, entgegnete das Kind; »siehe hierher.«
In einer ärmlichen, niedrigen Kammer, an derselben Art von Näherei arbeitend, die er so oft, so oft bei ihr gesehen, zeigte sich Meg, seine eigene liebe Tochter seinem Blick. Er suchte ihr nicht seine Küsse auf die Wange zu drücken, er strebte nicht, sie an sein liebevolles Herz zu schließen; er wußte, daß solche Zärtlichkeiten nicht mehr für ihn waren. Er hielt nur seinen zitternden Atem an und wischte die Tränen weg, die sein Auge blendeten, damit er nur sehen konnte.
Ach, wie verändert, wie verändert! Das Licht des klaren Auges, wie trübe! Die Rosen ihrer Wangen, wie welk! Schön war sie, wie sie immer gewesen war. Aber die Hoffnung, die Hoffnung! Ach, wo war die schöne Hoffnung, die zu ihm wie eine Stimme gesprochen?
Sie blickte von der Arbeit auf nach einer Gefährtin. Ihrem Auge folgend, fuhr der alte Mann zurück.
In dem aufgeblühten Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. In dem langen seidenen Haar sah er noch dieselben Locken, um die Lippen schwebte noch derselbe kindliche Ausdruck. Siehe, in den Augen, die nun forschend auf Meg ruhten, strahlte noch derselbe Blick, der auf deren Zügen lag, als er sie nach Hause brachte!
Was aber war dies?
Indem er mit Scheu in das Gesicht blickte, sah er ein Etwas darin herrschen; ein feierliches, unbestimmtes, unerklärliches, das kaum mehr als einen Gedanken von jenem Kinde ausdrückte – – das es wohl der Gestalt nach sein konnte – und doch war es dasselbe, dasselbe und trug dieselbe Kleidung.
Horch, nun sprachen sie.
»Meg«, sagte Lilly zaudernd. »warum hebst du so oft deinen Kopf von der Arbeit auf, um mich anzusehen!«
»Haben sich meine Blicke so geändert, daß sie dich erschrecken?« fragte Meg.
»O meine Liebe, du lächelst selbst darüber. Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst, Meg?«
»Ich tue es ja. Oder tue ich es nicht?« antwortete sie, Lilly mit einem Lächeln ansehend.
»Jetzt freilich«, sagte Lilly, »aber nicht immer. Wenn du denkst, ich bin beschäftigt und sehe dich nicht, dann siehst du so ängstlich und besorgt aus, daß ich es kaum wage, die Augen aufzuschlagen. Allerdings haben wir bei diesem harten, mühsamen Leben wenig Ursache zu lachen, du warst aber doch sonst so heiter?«
»Bin ich es nicht noch?« entgegnete Meg in einem seltsam unruhigen Ton und stand auf, um sie zu küssen. »Mache ich dir unser mühsames Leben noch mühsamer, Lilly?«
»Du warst das einzige Wesen«, sagte Lilly, sie ungestüm küssend, »das mir Leben einflößte, bisweilen das einzige Wesen, um dessentwillen es mich freute, zu leben. So viele Arbeit, so viele Arbeit! So viele Stunden und so viele Tage, so viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, freudenarmer, nimmer endender Arbeit, nicht um reich zu werden, nicht um vornehm oder fröhlich zu leben, nicht um auch nur notdürftig, obgleich noch so bescheiden zu leben, sondern um nur gerade das Brot zu verdienen, um gerade so viel zu erübrigen, um dabei zu verhungern und in uns das Bewußtsein unseres harten Schicksals lebendig zu erhalten. O Meg, Meg«, sagte sie mit lauterer Stimme und schlang von Schmerz überwältigt ihre Arme um sie, »wie kann die Welt so grausam sein und es ertragen, ein solches Leben mit ansehen!«
»Lilly«, sagte Meg, indem sie sie beruhigte und ihr das Haar aus dem tränenfeuchten Gesicht strich, »o Lilly, du, so hübsch und so jung!«
»O Meg«, unterbrach Lilly sie und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt, indem sie ihr flehend in das Gesicht sah, »das eben ist das Schlimmste, das Schlimmste! Wäre ich doch alt, Meg! Mache mich doch alt und runzelig, dann wäre ich frei von den schrecklichen Gedanken, die mich in meiner Jugend in Versuchung führen wollen!«
Trotty wandte sich um, um nach seinem Führer zu sehen. Doch der Geist des Kindes hatte die Flucht ergriffen. Er war fort.
Auch er blieb nicht an derselben Stelle; denn Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt ein großes Festmahl in Bowleyhall zu Lady Bowleys Geburtstagsfeier; und da Lady Bowley am Neujahrstage geboren war (was die Lokalblätter als einen besonderen Fingerzeig der Vorsehung betrachteten, daß Nummer eins die der Lady Bowley in der Schöpfung bestimmte Zahl sei), so fand dieses Festmahl an einem Neujahrstage statt.
Bowleyhall war voller Gäste. Der Herr mit dem roten Gesicht war da, Mr. Filer war da, der große Ratsherr Cute war da – Ratsherr Cute hatte besonders Sympathie für vornehme Leute, und sein Verhältnis zu Sir Joseph Bowley hatte sich, seitdem er jenen zuvorkommenden Brief geschrieben hatte, bedeutend gebessert; er war seit der Zeit geradezu ein Freund der Familie geworden – und viele Gäste waren da. Trottys Geist war auch da, und das arme Phantom wanderte unstet umher und blickte sich nach seinem Führer um.
In der großen Halle sollte ein großes Diner stattfinden, bei dem Sir Joseph Bowley in seiner berühmten Stellung als Freund und Vater der Armen seine große Rede