Der Tatbestand der Piraterie nach geltendem Völkerrecht. Stiel Paul

Der Tatbestand der Piraterie nach geltendem Völkerrecht - Stiel Paul


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aus dem historischen Rechte auf sein Wesen und seinen Inhalt gezogene Schlüsse sind von unmittelbarer Bedeutung für das geltende Recht. Vor allem ist die historische Betrachtung geeignet, die Anschauung, daß die Piraterie ein Tatbestand seepolizeilicher [pg 31]und nicht krimineller Natur ist, wesentlich zu unterstützen.

      III. Das Landesstrafrecht als Erkenntnismittel des völkerrechtlichen Tatbestandes70. Die Piraterie im Sinne des Völkerrechts ist eine gemeingefährliche Lebensführung, ein seepolizeilicher Tatbestand. Die in den Landesstrafgesetzgebungen als Piraterie bezeichneten Tatbestände sind, wie die kriminellen Tatbestände im modernen Rechte allgemein, genau umschriebene, nach Mittel und Erfolg verschieden qualifizierte einzelne Handlungen. Der völkerrechtliche Tatbestand und die landesrechtlichen Tatbestände verhalten sich zueinander wie Mittel und Zweck. Das psychische Element der Piraterie, die Absicht der Begehung von Gewalttaten, verwirklicht sich durch Setzung der landesstrafrechtlichen Tatbestände71.

      Bei der ihm zufallenden Auflösung der piratischen Lebensführung in einzelne Akte kann das Landesrecht entweder ohne jede Erwähnung des Begriffs der Piraterie auf piratische Akte die allgemeinen Vorschriften über Raub und Erpressung und weiterhin auch Tötung, Körperverletzung, Sachbeschädigung usw. anwenden; oder sich unter Verwendung des Begriffs seine Zerlegung zu einer besonderen Aufgabe stellen.

      Das erste dieser Systeme wird dem Wesen der Sache am meisten gerecht. Es hält sich selbst von der Vermischung völkerrechtlicher und landesrechtlicher Elemente fern und verleitet nicht dazu, sie zu vermischen. Die Gefahr, daß das Gesetz der eigenartigen Bedeutung, die den piratischen Akten wegen ihrer großen Gefährlichkeit auch für das Landesrecht zukommt, nicht gerecht wird, ist bei einiger Aufmerksamkeit des Gesetzgebers gering. Für die [pg 32]Ermittelung des völkerrechtlichen Tatbestandes sind die Landesstrafgesetzgebungen, die diesem ersten Systeme anhangen, kaum von Bedeutung. Zu dieser Gruppe gehört das deutsche, das skandinavische und das belgische Recht72.

      Das zweite System ist das des französisch-spanischen und verwandter Rechte und des englisch-amerikanischen Rechtes. Doch ist seine Durchführung in den beiden Rechtsgebieten wesentlich verschieden.

      Das englisch-amerikanische Recht sieht in der piracy juris gentium einen zugleich völkerrechtlichen und strafrechtlichen in beiden Disziplinen übereinstimmenden Tatbestand. Als statutory piracy bezeichnet es eine Reihe von Handlungen, deren bloß landesrechtliche Bedeutung nicht zweifelhaft sein kann73. Darüber, daß die see[pg 33]polizeiliche Auffassung der Piraterie mit der englischen Auffassung nicht unvereinbar ist, s. o. § 3.

      Die romanischen Staaten bringen in einem Abschnitt des Strafgesetzbuchs oder auch in Spezialgesetzen, meist unter einer besonderen Rubrik „Piraterie“, eine Reihe von Tatbeständen, die sich nur teilweise als piratische Akte, zum anderen Teile als außer aller Beziehung zum völkerrechtlichen Begriff der Piraterie stehende Handlungen darstellen, ohne daß das Gesetz die Grenze irgendwie erkennen ließe. Dieser Gruppe gehören außer dem französischen74, italienischen75, spanischen76, mexikanischen77, portugiesischen78 und brasilischen79, auch das niederländische80 und das griechische81 Recht an.

      [pg 34]

      Die Landesgesetzgebungen des zweiten Systems sind die Ursache der Verwirrung, die in der Lehre von der Piraterie herrscht. Die englisch-amerikanische Auffassung verfälscht den Charakter des Rechtsbegriffes, wenn sie ihn für einen notwendig und lediglich kriminellen ansieht; die Willkür des französischen und der ihm verwandten Rechte in der Verwendung des Namens der Piraterie für eine Reihe sehr verschiedenartiger und durchaus selbständiger Tatbestände verführt zur Ausdehnung auch des völkerrechtlichen Begriffes und ist so zum Ausgang der „Quasipiraterie“ geworden.

      Gleichwohl ist der in Frage stehende Komplex strafrechtlicher Bestimmungen für die Gewinnung des völkerrechtlichen Tatbestandes der Piraterie nicht ohne Wert. Das Bestreben der romanischen Gesetzgebungen, dem völkerrechtlichen Tatbestande bei seiner landesrechtlichen Auflösung nahe zu kommen, hat zu einer Anzahl von Bestimmungen geführt, die für Art und Umfang desselben beachtenswerte Anhaltspunkte ergeben. Und das englisch-amerikanische Recht hat den Vorzug, Aufschluß zu geben, ob und inwieweit in anderen Rechten als Piraterie qualifizierte Handlungen als wahre piratische Akte und das Gesamtverhalten ihrer Urheber als Piraterie betrachtet werden kann.

      Über das österreichische Recht, das aus dem entwickelten Schema der Landesgesetzgebungen herausfällt, s. u. § 6, IV 3.

      IV. Die Mannigfaltigkeit der mit dem Namen „Piraterie“ verknüpften Vorstellungen nötigt zu einer Sicherung der Terminologie. Wir bezeichnen als Piraterie schlechthin den völkerrechtlichen Tatbestand (seepolizeilicher Tatbestand); als piratische Akte die im völkerrechtlichen Tatbestand als Zweck gegebenen einzelnen Handlungen (kriminelle Tatbestände, sofern nicht landesrechtliche Straf[pg 35]ausschließungsgründe vorliegen; sie sind, unter derselben Voraussetzung, die piracy juris gentium der Engländer); als landesrechtliche Piraterie landesrechtlich als Piraterie bezeichnete Handlungen, die in keiner Beziehung zu dem völkerrechtlichen Begriffe stehen (kriminelle Tatbestände; statutory piracy der Engländer).

      V. Ohne Zweifel rein landesrechtlicher Natur und im folgenden nicht mehr zu berücksichtigen sind mehrere landesrechtliche Strafbestimmungen, die mit der Piraterie in offensichtlich nur ganz losem Zusammenhang stehenden Tatbeständen ihren Namen beilegen. Es sind die Bestimmungen des englischen und brasilischen Rechtes82 gegen den Handel mit Piraten, ihre Unterstützung speziell durch Lieferung von Schiffen und anderen Gegenständen und gegen überhaupt jedes83 Verständnis mit ihnen, des italienischen Rechtes84 gegen Begünstigung und Hehlerei, des mexikanischen85 gegen den Handel mit Piraten; ebenso die englischen und amerikanischen Vorschriften, die gewisse mit dem Sklavenhandel zusammenhängende Akte als piratisch bezeichnen (piratical slave-trading)86.

       Inhaltsverzeichnis

      I. Die Entwickelung87 des Zusammenlebens der organisierten menschlichen Verbände verläuft in der Richtung [pg 36]von einem die Verbände und ihre Angehörigen ergreifenden ständigen Kriegszustande zu einer friedlichen Gemeinschaft. Zwei Entwickelungsreihen stehen nebeneinander; der Krieg der Verbände wird zu einem Ausnahmezustande und zugleich auf die organisierte Streitmacht der Kriegführenden beschränkt88.

      Der Grund dieser Entwickelung ist die fortschreitende Anerkennung der menschlichen Persönlichkeit als eines Faktors von absolutem Wert. Der einzelne wird aus einer bloßen Partikel des Verbandes, dessen Leben das seine völlig einschließt, zu einem selbständigen Wesen, das jenseits der Schranken des Verbandes Interessen universeller Natur kennt und an dem Innenleben des Verbandes nur noch in einem seiner Eigenart entsprechenden Umfang, innerhalb dieses engeren Kreises aber mit größerer Intensität teilnimmt. Zunehmende Extensität und Intensität der Persönlichkeit ist das Stichwort ihrer Entwickelung89.

      Der absolute Wert der Persönlichkeit ist in die Welt des Rechtes durch die moderne Naturrechtsschule eingeführt worden90. Das Naturrecht verkündet die Anerkennung dieses absoluten Wertes als ein Prinzip des geltenden Rechtes91. In der Tat nur ein Prinzip für die Rechtsbildung, hat der Gedanke seitdem das innerstaatliche Recht [pg 37]umgestaltet und das Völkerrecht geschaffen92. Er ist der Ausgangspunkt des modernen Fremdenrechtes, das die rechtliche Grundlage der friedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der Völker und damit der Kernpunkt des Völkerrechtes ist93.

      In den Rahmen der Entwickelung des gegenseitigen Verhältnisses der menschlichen Verbände von dem Zustande dauernden Krieges zu dem eines prinzipiellen Friedens fügt sich das historische Piraterierecht ein. Dabei müssen zwei Formen der Piraterie unterschieden werden.

      II. Piraterie unter staatlicher Autorität. Der dauernde Kriegszustand zwischen den Staaten erlaubt diesen und jedem ihrer Angehörigen, dem anderen und seinen Angehörigen jeden möglichen Schaden zuzufügen.

      Über diesen Zustand ist das Altertum nicht hinausgekommen. Moralische Vorstellungen, wirtschaftliche Bedürfnisse, die politischen Machtverhältnisse94 mögen


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