Gesammelte Werke von Gustave Flaubert. Гюстав Флобер
es zur Genüge, meinte er. Erstens hatte er sich während der Cholera durch grenzenlosen Opfermut ausgezeichnet. Zweitens hatte er – und zwar auf seine eigenen Kosten – verschiedene gemeinnützige Werke veröffentlicht, beispielsweise die Schrift »Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung«, sodann seine »Abhandlung über die Reblaus«, die er dem Ministerium unterbreitet hatte, ferner seine statistische Veröffentlichung, ganz abgesehen von seiner ehemaligen Prüfungsarbeit. Er zählte sich das alles auf. »Dazu bin ich auch noch Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften.« In Wirklichkeit war es nur eine einzige.
»Eigentlich müßte es schon genügen,« rief er und warf sich selbstbewusst in die Brust, »daß ich mich bei den Feuersbrünsten hervorgetan habe!«
Er begann Fühlung mit der Regierung zu suchen. Zur Zeit der Wahlen erwies er dem Landrat heimlich große Dienste. Schließlich verkaufte und prostituierte er sich regelrecht. Er reichte ein Immediatgesuch an Seine Majestät ein, worin er ihn alleruntertänigst bat, »ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.« Er nannte ihn »unsern guten König« und verglich ihn mit Heinrich dem Vierten.
Jeden Morgen stürzte er sich auf die Zeitung, um seine Ernennung zu lesen; aber sie wollte nicht kommen. Sein Ordenskoller ging so weit, daß er in seinem Garten ein Beet in Form des Kreuzes der Ehrenlegion anlegen ließ, auf der einen Seite von Geranien umsäumt, die das rote Band vorstellten. Oft umkreiste er dieses bunte Beet und dachte über die Schwerfälligkeit der Regierung und über den Undank der Menschen nach.
Aus Achtung für seine verstorbene Frau, oder weil er aus emer Art Sinnlichkeit noch etwas Unerforschtes vor sich haben wollte, hatte Karl das geheime Fach des Schreibtisches aus Polisanderholz, den Emma benutzt hatte, noch nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich endlich davor, drehte den Schlüssel um und zog den Kasten heraus. Da lagen sämtliche Briefe Leos. Diesmal war kein Zweifel möglich. Er verschlang sie von der ersten bis zur letzten Zeile. Dann stöberte er noch in allen Winkeln, allen Möbeln, allen Schiebfächern, hinter den Tapeten, schluchzend, stöhnend, halbverrückt. Er entdeckte eine Schachtel und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Rudolfs Bildnis sprang ihm buchstäblich ins Gesicht. Es lag neben einem ganzen Bündel von Liebesbriefen.
Bovarys Niedergeschlagenheit erregte allgemeine Verwunderung.
Er ging nicht mehr aus, empfing niemanden und weigerte sich sogar, seine Patienten zu besuchen. Dadurch entstand das Gerücht, daß er sich einschließe, um zu trinken. Neugierige aber, die hin und nieder den Kopf über die Gartenhecke reckten, sahen zu ihrer Überraschung, wie der Menschenscheue in seinem langen Bart und in schmutziger Kleidung im Garten auf und ab ging und laut weinte.
An Sommerabenden nahm er sein Töchterchen mit sich hinaus auf den Friedhof. Erst spät in der Nacht kamen die beiden zurück, wenn auf dem Marktplätze kein Licht mehr schimmerte, außer aus dem Stübchen Binets.
Aber auf die Dauer befriedigte ihn die Wollust seines Schmerzes nicht mehr. Er brauchte jemanden, der sein Leid mit ihm teilte. Aus diesem Grunde suchte er Frau Franz auf, um von »ihr« sprechen zu können. Aber die Wirtin hörte nur mit halbem Ohre zu, da auch sie ihre Sorgen hatte. Lheureux hatte nämlich seine Postverbindung zwischen Yonville und Rouen eröffnet, und Hivert, der ob seiner Zuverlässigkeit in Kommissionen allenthalben großes Vertrauen genoß, verlangte Lohnerhöhung und drohte, »zur Konkurrenz« überzugehen.
Eines Tages, als Karl nach Argueil zum Markt gegangen war, um sein Pferd, sein letztes Stück Besitz, zu verkaufen, begegnete er Rudolf. Als sie einander sahn, wurden sie beide blaß. Rudolf, der bei Emmas Tode sein Beileid nur durch seine Visitenkarte bezeigt hatte, murmelte zunächst einige Worte der Entschuldigung, dann aber faßte er Mut und hatte sogar die Dreistigkeit, – es war ein heißer Augusttag – Karl zu einem Glas Bier in der nächsten Kneipe einzuladen.
Er lümmelte sich Karl gegenüber auf der Tischplatte auf, plauderte und schmauchte seine Zigarre. Karl verlor sich in tausend Träumen vor diesem Gesicht, das »sie« geliebt hatte. Es war ihm, als sähe er ein Stück von ihr wieder. Das war ihm selber sonderbar. Er hätte der andre sein mögen.
Rudolf sprach unausgesetzt von landwirtschaftlichen Dingen, vom Vieh, vom Düngen und dergleichen. Wenn er einmal in seiner Rede stockte, half er sich mit ein paar allgemeinen Redensarten. So vermied er jedwede Anspielung auf das Einst. Karl hörte ihm gar nicht zu. Rudolf nahm das wahr; er ahnte, daß hinter diesem zuckenden Gesicht Erinnerungen heraufkamen. Karls Wangen röteten sich mehr und mehr, seine Nasenflügel blähten sich, seine Lippen bebten. Einen Augenblick lang sahen Karls Augen in so düsterem Groll auf Rudolf, daß dieser erschrak und mitten im Satz steckenblieb. Aber alsbald erschien wieder die frühere Lebensmüdigkeit auf Karls Gesicht.
»Ich bin Ihnen nicht böse!« sagte er.
Rudolf blieb stumm. Karl barg den Kopf zwischen seinen Händen und wiederholte mit erstickter Stimme im resignierten Tone namenloser Schmerzen:
»Nein, ich bin Ihnen nicht mehr böse!«
Er fügte ein großes Wort hinzu, das einzige, das er je in seinem Leben sprach:
»Das Schicksal ist schuld!«
Rudolf, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand insgeheim, für einen Mann in seiner Lage sei Bovary doch allzu gutmütig, eigentlich sogar komisch und verächtlich.
Am Tag darauf setzte Karl sich auf die Bank in der Laube. Die Abendsonne leuchtete durch das Gitter, die Weinblätter zeichneten ihren Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete süß, der Himmel war blau, Insekten summten um die blühenden Lilien. Karl atmete schwer; das Herz war ihm beklommen und tieftraurig vor unsagbarer Liebessehnsucht.
Um sieben Uhr kam Berta, die ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen hatte, um ihn zum Essen zu holen.
Sein Kopf war gegen die Mauer gesunken. Die Augen waren ihm zugefallen, sein Mund stand offen. In den Händen hielt er eine lange schwarze Haarlocke.
»Papa, komm doch!« rief die Kleine.
Sie glaubte, er wolle mit ihr spaßen, und stieß ihn sacht an. Da fiel er zu Boden. Er war tot.
Sechsunddreißig Stunden darnach eilte auf Veranlassung des Apothekers Doktor Canivet herbei. Er öffnete die Leiche, fand aber nichts.
Als aller Hausrat verkauft war, blieben zwölf und dreiviertel Franken übrig, die gerade ausreichten, die Reise der kleinen Berta Bovary zu ihrer Großmutter zu bestreiten. Die gute alte Frau starb aber noch im selben Jahre, und da der Vater Rouault gelähmt war, nahm sich eine Tante des Kindes an. Sie ist arm und schickt Berta, damit sie sich das tägliche Brot verdient, in eine Baumwollspinnerei.
Seit Bovarys Tode haben sich bereits drei Ärzte nacheinander in Yonville niedergelassen, aber keiner hat sich dort halten können. Homais hat sie alle aus dem Feld geschlagen. Seine Kurpfuscherei hat einen unheimlichen Umfang gewonnen. Die Behörde duldet ihn, und die öffentliche Meinung empfiehlt ihn immer mehr.
Kürzlich hat er das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.
Salambo
Salammbô
1862
Ein Roman aus Alt-Karthago