G. K. Chesterton: Krimis, Aufsätze, Romane und mehr. Гилберт Кит Честертон
forschte Syme.
»Jetzt eben«, antwortete der Professor, »gehen wir um die Ecke, um nachzuschauen, ob Dr. Bull schon zu Bett gegangen ist. Der hält nämlich auf Gesundheit. Der geht früh schlafen.«
»Dr. Bull!« rief Syme aus. »Wohnt der da um die Ecke?«
»Nein«, antwortete sein Freund. »In Wirklichkeit wohnt er ziemlich weit weg. Drüben überm Fluß. Aber wir können von hier aus sagen, ob er sich schon niedergelegt hat.«
Und an besagter Ecke deutete de Worms mit seinem Stock über die dunkle lichtgesprenkelte Themse hinüber nach dem jenseitigen Ufer.
Und am bezeichneten Punkt auf der Surreyseite drüben, die die Südseite ist – da ragten nebeneinander ein paar schlanke hohe Baulichkeiten auf, punktiert von erleuchteten Fenstern, so schwindelnd hoch wie Fabrikschornsteine, daß sie allzusammen aussahen wie ein Turm zu Babel mit hundert Augen. Syme hatte nie noch amerikanische Wolkenkratzer gesehen, – so glaubte er, er träume nun von ihnen …
Und gerad wie er hinüberstarrte, ging das höchste Licht von den zahllosen Lichtern da drüben aus, als ob der schwarze Argus ihm mit einem seiner zahllosen Augen zugewinkt hätte –
Und da drehte sich Professor de Worms auf dem Absatz um und schlug mit seinem Stock gegen seinen Stiefel –
Und sagte: »Zu spät … Der hygienische Doktor ist zu Bett gegangen …«
»Wie?« fragte Syme. »Wohnt er denn da drüben?«
»Ja«, sagte de Worms. »Hinter jenem einen Fenster, das Sie nicht sehen können. Kommen Sie – wir gehen dinieren. Wir müssen morgen früh bei ihm vorsprechen.«
Sie redeten weiter nichts mehr miteinander. Der Professor nahm den Weg voran durch mehrere Seitenwege. Bis sie in die strahlende Helle und in das Getöse von East India Dock Road kamen. Der Professor, der sich hier überall aufs beste auszukennen schien, strebte weiter voraus bis auf einen Platz, allwo die Reihe erleuchteter Läden plötzlich endigte und Zwielicht herrschte und Ruhe und wo ein altes freundliches, ganz und gar baufälliges Gasthaus sich etwa zwanzig Schritt vom Weg in die Ecke drückte.
»Man findet hier und da noch gute englische Gasthäuser – durch reinen Zufall – aber ganz fossile«, erläuterte der Professor, »einmal fand ich ein sehr anständiges in West End.«
»Und ich vermute«, lächelte Syme, »daß dieses dann das korrespondierende in East End ist?«
»Sehr richtig«, sprach der Professor mit Würde und trat ein …
Und da dinierten – und da schliefen sie, die beiden. Und das sehr gründlich. Die Bohnen und der Speck, glänzend zubereitet von den seltsamen Leutchen – und wie so erstaunlich Burgunder aus ihrem Keller floß: das machte Symes Glauben an eine neue Kameradschaft und an ein neues Glück vollkommen. Durch all die Feuerprobe hindurch war Symes tiefste Qual seine Isolation gewesen. Und Worte können nimmer den ungeheuren Abstand durchmessen zwischen Isoliertsein und einen Alliierten an seiner Seite wissen. Den Mathematikern zugegeben: 2x2 = 4. Aber 2 ist nicht 2x1. 2 = 2000x1! Indem, hundert Nachteilen zum Trotz, die Welt immer wieder zur Monogamie zurückkehren wird …
Nun konnte Syme endlich einmal seine ganze unglaubliche Geschichte an einen loswerden – von dem Augenblick an, da Gregory ihn in jene kleine Taverne am Fluß mitgenommen hatte. Und er erzählte sie, behaglich, ausführlich, in einem reichen, üppigen, überwuchernden Monolog – so wie man sehr alten Freunden etwas erzählt. Andererseits war der, der den Professor de Worms darstellte, nicht weniger mitteilsam. Und seine eigene Geschichte war fast so absurd wie die Symes …
»Ihre Aufmachung ist eine tadellose Aufmachung«, sprach Syme – und genehmigte ein Glas Mâcon. »Um wieviel tadelloser als die des lieben Gogol. Mir war von allem Anfang schon: er war ein bißchen zu haarig.«
»Zwei verschiedene künstlerische Anschauungen«, versetzte der Professor tiefsinnig. »Gogol war Idealist. Er schminkte und schmückte sich auf das abstrakte oder platonische Idealbild eines Anarchisten hinaus. Ich aber bin Realist. Ich bin ein Porträtmaler. Aber nein – Porträtmaler ist nicht der richtige Ausdruck. Ich bin ein Porträt.«
»Ich versteh nicht«, sagte Syme.
»Ich bin ein Porträt«, wiederholte der Professor. »Ich bin das Porträt von dem berühmten Professor de Worms, der, glaub ich, in Neapel ist.«
»Sie wollen damit sagen, daß Sie ihn mimen«, sagte Syme. »Ja, aber weiß er das nicht, daß Sie seine Nase zu unlauterem Wettbewerb mißbrauchen?«
»Er hat einen ausgezeichneten Riecher«, scherzte sein Freund.
»Ja, aber warum verstänkert er Sie denn da nicht?«
»Weil ich ihn verstänkert habe«, antwortete der Professor.
»Erklären Sie mir das, bitte«, sprach Syme.
»Aber gern! Wenn Sie also nichts dagegen haben«, versetzte der eminente ausländische Philosoph, »dann bin ich von Beruf Schauspieler und heiße Wilks. Als ich noch beim Theater war, verkehrte ich mit allen möglichen Bohémiens und Lumpenpack. Mit Rennschiebern – mit dem Aus-und Fehlschuß unter den Künstlern – und mit politischen Flüchtlingen. Bald mit solchen, bald mit solchen. Wies traf. In einem Schlupfwinkel exilierter Träumer und Phantasten wurde ich dem großen deutschen nihilistischen Philosophen Professor de Worms vorgestellt. Der fesselte mich weiter nicht als nur durch sein Aussehen, das wirklich abscheulich war, und das ich sorgfältig studierte. Ich hörte dann, daß er bewiesen hatte, das wahrhaft destruktive Prinzip im Universum sei Gott. Und daß er seitdem die Notwendigkeit einer wütenden unablässigen Energie proklamierte, alles und jedes in Stücke zu zerreißen.
Die Energie, sagte er, sei das All. Er war lahm, kurzsichtig und partieller Paralytiker. So oft ich ihn traf, geriet ich in frivole Stimmung, und ich mißfiel ihm stets so sehr, daß ich beschloß, ihn zu imitieren. Wenn ich ein Zeichner gewesen wäre, hätt ich eine Karikatur von ihm gezeichnet. Da ich nur ein Mime war, konnt ich die Karikatur nur mimen. Ich richtete mich also so zusammen: daß es eine grobe Uebertreibung von des alten Professors dreckigem altem Ich sein sollte. Und dachte, daß ich, sowie ich einträte, von seinen Anhängern mit einem brüllenden Gelächter oder (wenn ich etwa zu weit gegangen wäre) mit einem Schrei der Entrüstung und mit Schimpfen und Schmähen begrüßt würde. Ich kann Ihnen meine Ueberraschung beim besten Willen nicht beschreiben – wie mein Erscheinen mit ehrfürchtigem Schweigen und dann (wie ich meinen Mund auftat) mit einem Murmeln der Bewunderung gefeiert wurde. Ich hatte die göttliche Kunst lästern wollen. Ich hatte es zu fein, ich hatte es zu wahr angelegt. Man dachte, ich wäre in der Tat der große nihilistische Gelehrte. Ich war ein frischer, forscher Bursche zu der Zeit, und ich gebe es zu, es war ein loser Streich. Aber bevor ich das Ding wieder gutmachen konnte, stürzten zwei oder drei Verehrer auf mich – die nur so bebten vor Wut – und wollten mir erzählen: ich würde gerad nebenan öffentlich gelästert. Ich fragte – wieso. Ein gottverfluchter Bengel jedenfalls, der führe eine elendigliche Parodie auf mich auf. Ich hatte aber mehr Champagner getrunken als gut für mich gewesen war – und in blödsinniger Laune beschloß ich, die Rolle durchzuspielen. So wars nur Konsequenz, daß ich der Leuchte dieser Gesellschaft Aug in Aug – mit hochgezogenen Augenbrauen und mit wie vor Todesschauern frierenden Augen – gegenübertrat.
»Ich brauch wohl kaum zu sagen: daß das eine Kollision war. Die Pessimisten rundum sahen ängstlich von einem Professor zum andern Professor, um zu sehen, wer von den beiden denn wirklich der hinfälligere war. Und ich – – gewann. Ein Mann von so schwacher Gesundheit wie mein Rivale, von dem konnte man nicht verlangen, daß er so eindringlich – daß er so ausdrucksvoll hinfällig aussähe als wie ein junger Schauspieler in der Blüte seiner Jahre. Sie sehen: er hatte tatsächlich Paralyse, aber er konnte als solcher nicht annähernd so hübsch paralytisch sein wie ich. Da versuchte er denn, mich Frechling geistig auszustechen. Aber ich parierte mit einem überaus einfachen Kniff. So oft er irgend etwas sagte, das keiner als er verstehen konnte, erwiderte ich mit etwas, das ich selber nicht einmal verstand. ›Ich kann mir nicht denken‹, sprach er, ›daß Sie das Prinzip: Evolution ist nur Negation, ausgearbeitet