Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
Unter den halbgeschlossenen Lidern wirft er ihr einen schnellen Blick zu. Sie ahnt nicht, wie sehr sie ihm entgegenkommt, indem sie dieses Thema anschneidet.
»Gut! Ich verdanke ihm sehr viel. Er war immer großzügig zu mir und hatte viel Verständnis für mich. Sein Tod tut mir sehr leid.« Er sieht an ihr vorbei und dreht nervös die Getränkekarte in der Hand.
»Und warum sind Sie heute mit mir hierher gegangen, wo Sie doch in Trauer sind?« bohrt sie hartnäckig weiter.
Er wird unruhig. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Seine Bewegungen werden fahrig. »Ich sagte Ihnen doch schon, sein Tod ist mir verdammt nahegegangen. Ich wollte mich ablenken und habe deshalb Ihre Gesellschaft und Ablenkung gesucht.«
»Waren Sie dabei, als er starb?«
Er zuckt kaum merklich zusammen. »Nein!« sagt er kurz und hart.
Ihre Augen weiten sich vor Verblüffung. »Aber Sie haben es doch behauptet, damals – als Sie in den Waschraum kamen.«
Er holt sein Taschentuch aus der Brusttasche und tupft sich über die Stirn. »Das war natürlich Unsinn. Ich war betrunken. Es gibt so viele Gründe, die ich Ihnen nennen könnte. Aber ich war nicht dabei.«
Sie atmet tief auf, und als er sich unvermittelt erhebt und etwas schwankend, eine Entschuldigung murmelnd, den Tisch verläßt, da glaubt sie ihm, daß er unter des Schwagers Tod leidet.
Er kehrt nach einer Weile völlig verwandelt zurück. So offensichtlich ist er verändert, daß sie ihn aufmerksam forschend betrachtet.
»Prost, Magda«, sagt er heiter, als hätte er das Gespräch von vorhin vergessen. »Wir wollen die Tapeten wechseln. Hier gefällt es mir nicht mehr.«
Verwirrt folgt sie ihm, läßt sich in ihren neuen, sehr eleganten Mantel helfen und fühlt mit Beglückung, wie er sie dabei fest an sich preßt. Draußen am Wagen, auf dem schwach erleuchteten Parkplatz, dreht er sie zu sich herum und drückt seinen Mund auf ihre Lippen. Zuerst ist sie überrascht und will sich wehren, dann geben ihre Lippen nach, und seine Küsse werden immer länger und leidenschaftlicher.
»Magda!« flüstert er.
Sie wirft die Arme um seinen Hals und raunt glückstrunken zurück: »Martin!«
Als der Wagen endlich durch die nächtlichen Straßen rollt, hält er das Steuer mit der linken Hand, die rechte hat er um Magda gelegt, deren Kopf an seiner Schulter ruht.
*
Doktor Müller, mittelgroß, dunkelhaarig, mit an den Schläfen silbern schimmernden Haaren und warmen braunen Augen, stutzt, als er auf dem breiten Flur Oberschwester Magda begegnet. Dicht vor ihr verhält er den Schritt.
»Nanu«, macht er betroffen. »Wie haben Sie sich verändert, Oberschwester. Ist ihnen das Glück persönlich begegnet?«
Sie schämt sich, daß sie so unerhört glücklich ist und daß man es ihr auch noch ansieht. Vor allem Doktor Müller, der sich immer gern mit ihr unterhalten hat und dessen kleine Bemerkungen sie immer für Spott hielt.
Sie ärgert sich plötzlich und zuckt mit den Schultern. »Kann mir nicht denken, daß ich anders als sonst aussehe«, erwidert sie unwillig und will in ihr Zimmer verschwinden.
»Augenblick, ich komme mit.«
In dem schmalen, einfenstrigen Raum nimmt Oberschwester Magda an ihrem Schreibtisch Platz, während sich Doktor Müller auf den Stuhl setzt.
»Wissen Sie schon, was man vom Oberarzt erzählt?«
»Von Doktor Romberg?« fragt sie interessiert zurück, und er nickt und spricht weiter:
»Doktor Romberg soll die Schuld am Tode dieses Großindustriellen Stücker tragen.«
Vor Schreck läßt die Oberschwester den Füller aus der Hand fallen. »Das ist doch nicht möglich«, entfährt es ihr entsetzt. »Wer bringt denn dieses Gerücht auf? Du lieber Himmel, Sie waren doch selbst dabei, als der Oberarzt die zweite Operation ausführte.«
Doktor Müller nagt an der Unterlippe. »Das ist es doch eben. Ich kann mir nicht erklären, wie ein solches Gerücht entstehen kann.«
Unsicher blickt sie auf den Arzt. »Und – und weiß es Romberg schon?«
Doktor Müller erhebt sich und geht erregt hin und her. »Nein, wie das in solchen Fällen üblich ist. Die Hauptperson erfährt zuletzt davon. Mir tut der arme Kerl leid. Er ist die Zuverlässigkeit in Person und wird sich mit solchem Schmutz abgeben müssen.«
»Ich kann das gar nicht fassen«, stößt sie aufgebracht hervor.
»Was kannst du nicht fassen, Magda?« Unbemerkt ist Doktor Freytag eingetreten. Er geht durch den Raum, drückt seine Lippen auf Magdas Wange, unberührt von Magdas Verlegenheit und ihrem plötzlich aufglühenden Gesicht und unbekümmert des Staunens, das sich auf Doktor Müllers Zügen widerspiegelt.
Trotz des Schreckens, den sie soeben durchlebt hat, durchzittert sie der glückliche Gedanke: »Er bekennt sich offen zu mir.«
Sie blickt verstört zu ihm auf, der sich mit beiden Händen auf ihren Schreibtisch stützt. »Es handelt sich um Doktor Romberg.«
»Soo –?« fragt er gedehnt, als interessiere ihn das weiter nicht. »Ist was passiert?« setzt er doch fragend hinzu, als er deutlich genug aus den Mienen Magdas und des Arztes Mißbilligung liest.
»Ja«, erwidert Müller trocken. »Es gibt allem Anschein nach in diesem Haus Leute, die sich als Denunzianten betätigen. Weiter ist gar nichts passiert.«
»Klatsch«, macht Freytag verächtlich. »Seit wann geben Sie etwas darauf, Herr Kollege?«
»Seit es um unseren allseits verehrten Oberarzt Doktor Romberg geht«, gibt Dr. Müller spöttisch zur Antwort. Er wirft einen seltsamen, beinahe mitleidigen Blick auf die Oberschwester und geht.
»Komische Nudel«, unterbricht Freytag die eingetretene Stille.
In Magdas Augen flammt es auf. »Ich finde ihn durchaus nicht komisch, Martin.«
»Oho!« Freytag betrachtet Magda belustigt. »Seit wann setzt du dich so warm für den Leisetreter ein?«
»Er ist auch kein Leisetreter«, ereifert sich Magda, und in diesem Augenblick gefällt sie ihm beinahe wirklich. »Er ist der ehrlichste und aufrichtigste Kollege.«
Freytag spürt es heiß und zornig in sich aufsteigen. Aber er beherrscht sich. Er wendet seine Methode an, die ihn immer zum Ziel geführt hat. Er legt den Arm um Magda, preßt sie an sich und verschließt ihr den Mund mit einem heißen Kuß.
»Was gehen uns diese Dinge an, Magda«, flüstert er ihr zu. »Wir haben mit uns genug zu tun. Meinst du nicht auch?«
Die Oberschwester befreit sich schnell aus seinem Arm, rückt ihr Häubchen zurecht und geht zum Spiegel. Ein paar Locken haben sich gelöst und fallen in ihre hohe Stirn. Energisch versteckt sie das Haar unter der Haube. »Ich bin im Dienst, Martin«, erklärt sie ihm ärgerlich. Dabei brennen seine Lippen immer noch wie Feuer auf ihrer Haut, obwohl er gelassen und lächelnd mit dem Rücken gegen das Fenster lehnt.
»Richtig, Magda. Ich bin gekommen, dich um ein paar Ampullen für einen ambulanten Patienten zu bitten. Ich mußte ihm neulich die Hand aufschneiden. Er hat unerträgliche Schmerzen.«
»Ein paar?« fragt sie rasch. »Genügt nicht vorläufig eine?«
Er lächelt hintergründig. »Meinetwegen auch eine. Dann habe ich Grund, dich bald wieder aufzusuchen.«
Gewissenhaft notiert sie Namen und Adresse des Patienten, die Freytag ihr nennt, in das Morphiumbuch und händigt ihm die Ampulle aus.
»Wiedersehen, Liebling!«
Sie lächelt ihm herzlich zu, dann konzentriert sie sich mit allem Willen auf ihre Arbeit.
*
Sybilla