Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
Er bemerkt die spitze, weiße Nase und weiß alles. Er ist sekundenlang wie gelähmt. Was ist versäumt worden? Trägt er die Schuld daran? Ist der Patient nicht ordentlich geröntgt worden?
»Ich vermute – die Milz.« Wie aus weiter, weiter Ferne hört er Müllers etwas knarrende Stimme.
»Sofort in den Operationssaal«, befiehlt Romberg und hetzt davon. In kurzer Zeit ist im Operationssaal alles vorbereitet.
Oberschwester Magda steht an ihrem Platz. Doktor Müller assistiert, und Romberg ist bereit zur Operation. Er zwingt sich mit eiserner Energie zur Ruhe. Er fühlt, wie ihm der Schweiß aus allen Poren tritt. Seine Hand aber ist ruhig, ruhig und sicher wie immer. Keiner ahnt, was ihn diese Ruhe an Nervenkraft kostet. Auch alle Nebengedanken sind abgeschaltet. Nur der einzige Gedanke beherrscht ihn: Der Patient muß leben, auf jeden Fall leben.
»Gerettet!«
*
Müllers Stimme tönt wie Engelsgesang in Rombergs Ohren. Er wankt aus dem Operationssaal. Er hat sich gerade noch solange auf den Beinen gehalten, um den sorgfältigen Transport in eines der schönsten und ruhigsten Zimmer zu beaufsichtigen, dann wird ihm schwarz vor Augen.
Nur Sekunden währt dieses wohltätige Dunkel. Er merkt, wie ihm ein Glas an die Lippen geschoben wird. Er öffnet die Augen, sieht an sich hinunter und entdeckt, daß man ihm schon die Gummikleidung abgenommen hat.
»Endlich!« sagt Doktor Sybilla Sanders und hält ihm das Glas noch einmal an die Lippen. Gehorsam schluckt er, und dann ist er wieder ganz wach und klar im Kopf.
»Was macht der Patient?« ringt er sich ab.
»Nicht besonders gut – das Herz«, erwidert sie leise.
»Mein Gott, Doktor Sanders«, fährt er erregt auf. »Haben wir denn gestern etwas versäumt?«
Sie schüttelt energisch den Kopf. »Sie können das Röntgenbild noch einmal ansehen. Wir stehen tatsächlich vor einem Rätsel. Sie haben doch wirklich alles, alles getan, was menschenmöglich ist.«
»Kommen Sie, Doktor!« Schwerfällig erhebt er sich, und Sybilla stützt ihn schnell. »Wir sehen uns den Patienten noch einmal an. Hat Doktor Müller noch eine Transfusion gemacht?«
»Auch das ist geschehen, Herr Doktor. Er wird soeben damit fertig sein. Wie Sie anordneten, haben wir sie in seinem Zimmer gemacht.«
Romberg geht neben Doktor Sanders den Gang entlang. Schwester Sieglinde ist auch wieder auf ihrem Posten. Sie sieht hinter den beiden Ärzten her. Wie verstört der Oberarzt ist – denkt sie. Er gönnt sich wirklich keine Ruhe.
Mit geschickten Händen rollt sie Mullbinden auf. Sie läßt die Tür zu Nummer 22 nicht aus den Augen.
Sie hat nicht auf die Uhr gesehen, doch ihr kommt es sehr lange vor, bis der Oberarzt wieder erscheint. Jetzt wird ihr angst und bange vor Rombergs kalkigem Aussehen.
Er wankt förmlich und hinter ihm Doktor Sanders. Langsamer folgt Doktor Müller. Er bleibt vor Schwester Sieglinde stehen. Auch seine Züge sind ernst und undurchdringlich.
»Rufen Sie in der Villa Stücker an und bitten Sie Frau Stücker zu uns.«
Da weiß Schwester Sieglinde, was geschehen ist.
Hubert Stücker, der Patient von Zimmer 22, ist tot.
*
Sybilla Sanders hat den Oberarzt in das Ärztezimmer geleitet. Und genau wie in der Nacht bereitet sie ihm einen starken Kaffee. Dabei beobachtet sie ihn mit größter Besorgnis.
Er hat sich völlig verausgabt. Wie er so in dem Sessel lehnt, den Kopf an die Lehne gestützt, die Augen geschlossen und die Beine weit von sich gestreckt, macht er fast den Eindruck eines zusammengebrochenen Menschen.
Geht ihm das Schicksal dieses Hubert Stücker so nahe? Womit quält er sich ab? Warum spricht er sich nicht aus? Sie würde ihm zuhören, ohne ihn zu unterbrechen. Sie würde ihm nur gute, tröstende Worte sagen, denn er hat alles getan.
Was ist es, was hinter dieser beängstigenden Apathie steckt?
Sie ist selbst bis ins Herz hinein erregt. Ihr kommt es vor, als sei sie ein Teil von ihm selbst, als sei sein Leid das ihrige und sein Kummer auch ihr Kummer.
»Sie müssen trinken, Herr Doktor!« reißt sie ihn aus seiner Gleichgültigkeit.
Er hebt die Lider und sieht in ihr besorgtes Antlitz. Und wie schon einmal lächelt er schwach. Immer wenn er in innerer Not ist, steht sie wie ein guter Kamerad neben ihm.
Langsam greift er zu der Tasse. Schluck um Schluck nimmt er, und er fühlt, wie ihn der Trank belebt.
»Danke, Doktor«, flüstert er mit heiserer Stimme und schließt wieder die Augen.
Es klopft. Sybilla gleitet auf leisen Sohlen zur Tür, flüstert und kehrt zu Romberg zurück.
»Frau Stücker ist da. Wollen Sie mit ihr sprechen – oder wünschen Sie, daß ich es tue?«
Von weither holt er seine Gedanken. Christiana ist da? Er empfindet heftige Abwehr in sich. Ja, ihm graust vor diesem Zusammentreffen. Schon will er nicken, da geht es wie ein Ruck durch seinen Körper.
Nein! Er schickt keinen vor. Er ist noch niemals feige gewesen, und er hat alles getan, was überhaupt zu tun war.
Er erhebt sich. »Ich danke, Doktor Sanders«, sagt er und reicht ihr die Tasse. »Ich werde auch das noch auf mich nehmen.«
Aus übergroßen, verzweifelten Augen sieht sie hinter ihm her.
Wenig später steht er Christiana Stücker gegenüber. Er sieht aus kühlen, merkwürdig hellen Augen auf die elegante Frau, die er einmal so heiß geliebt hat.
Stumm stehen sie sich gegenüber. Ihre grauen glänzenden Augen lassen ihn nicht los. Plötzlich kommt Bewegung in sie, sie stürzt förmlich auf ihn zu und schlingt die Arme um seinen Hals, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
»Oh, Wolf, lieber, lieber Wolf, so hast du es wirklich getan?« stößt sie unter Tränen hervor.
Er starrt sie entgeistert an. Er sieht den schwellenden Mund, den er einst so heiß geküßt hat und der eine solche Ungeheuerlichkeit ausspricht.
Vorübergehend verwirrt sich alles in ihm. Bis er endlich ganz begriffen hat.
»Bist du wahnsinnig geworden?« Er reißt ihre Hände von seiner Schulter, so daß sie ein Stück rückwärts taumelt. »Wie kannst du eine solche Behauptung aufstellen? Das Herz deines Mannes hat versagt –«
»Das Herz – natürlich – das Herz«, flüstert sie, und ihr Mund verzieht sich dabei. Es sieht aus wie Spott.
Da steigt der Zorn in ihm empor, wilder, heiliger Zorn.
»Jetzt weiß ich, daß du mich noch liebst, Wolf, wie ich nie aufgehört habe, dich zu lieben.« Sie sagt das mit lockender Zärtlichkeit, aber sie erreicht nur, daß er noch wütender wird.
Er umfaßt ihr Handgelenk und schüttelt sie. Seine Augen flammen, daß sie Furcht befällt.
»Sie irren sich, gnädige Frau. Ich liebe Sie schon lange nicht mehr. Sie selbst haben jedes Gefühl in mir getötet. Ich verabscheue Sie, und das ist das einzige Gefühl, das ich Ihnen entgegenbringe.«
Er läßt sie los und tritt von ihr zurück. Noch nie hat sie so harte, so endgültige Worte aus seinem Mund gehört, so eiskalt, daß es ihr selbst kalt über den Rücken läuft.
Sie flüchtet vor dieser Stimme, die soeben Abrechnung mit ihr gehalten hat. Bis zur Tür flüchtet sie und sagt von dorther: »Wir haben noch nicht das letzte Wort zusammen gesprochen, Wolf. Du wirst von mir hören.«
Die Tür fällt ins Schloß. Es klingt, als fielen Sandschollen auf ein Grab. In diesem Grab ist seine einstige große Liebe eingeschlossen. Wie gut, daß er nicht weiß, welch großes Leid ihm daraus erwachsen soll.
*
Zur