Dr. Norden (ab 600) Box 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Warum sind Sie nicht längst wieder verheiratet?«, fragte er. Ohne ihren Blick loszulassen, zog er ihre Finger an seine Lippen.
»Ich weiß nicht«, stammelte Wendy. Langsam aber sicher gelangte sie an ihre Grenzen. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
Plötzlich hatte der Abend seinen Zauber verloren. Mit einem Mal entdeckte sie die feinen Spinnweben in der Lampe. Die äußeren Blätter der Rosen auf dem Tisch waren welk, der silberne Kerzenleuchter angelaufen. Und sogar Edgar von Platens Lächeln wirkte aufgesetzt und gar nicht mehr so charmant und strahlend wie noch Minuten zuvor.
Er bemerkte nichts von ihrem Stimmungsumschwung.
»Ein Glück. Sonst hätten wir niemals diesen wundervollen Abend miteinander verbracht«, säuselte seine Stimme an ihr Ohr. »Und die vielen anderen herrlichen Dinge, die noch auf uns warten.«
Zu Wendys Erleichterung kam der Ober und brachte ihre Karte zurück. Er überreichte sie ihr mit einer kleinen Verbeugung und wünschte einen schönen Abend.
»Was machen wir zwei Hübschen denn jetzt noch?«, fragte Edgar unternehmungslustig.
Doch für diesen Abend hatte seine Begleiterin genug.
»Bitte bringen Sie mich nach Hause. Ich bin müde und möchte schlafen.« Noch bevor Edgar diese Aussage falsch deuten und sich unberechtigte Hoffnungen machen konnte, fügte sie hinzu: »Allein!«
Im Gegensatz zu allen anderen war dieser Tag eindeutig zu ereignisreich gewesen, und sie sehnte sich nach ihrer kleinen Wohnung, nach Ruhe und Einsamkeit, um ihre durcheinandergeratenen Gedanken zu sortieren.
Ihr entschiedener Tonfall ließ auch Edgar von Platen vosichtig werden. Auf keinen Fall sollten seine Bemühungen um Annemarie Wendel vergeblich sein. Deshalb ließ er Zurückhaltung walten und kam ihrem Wunsch entgegen. Ganz Gentleman verabschiedete er sich vor ihrer Wohnung mit einem artigen Handkuss von Wendy und wartete, bis sie im Hausflur verschwunden war.
*
Mit ihren braunen langen Haaren, den ungewöhnlichen, leicht mongolischen Gesichtszügen und der schlanken hochgewachsenen Gestalt war Melina Keinath eine wirklich aparte Erscheinung. Dass sie kaum geschminkt war und ein sehr natürliches Lächeln besaß, machte sie nur noch sympathischer.
Damit hatte Dr. Daniel Norden nicht gerechnet und einen Moment lang verschlug es ihm die Sprache, als sie sich auf den Stuhl setzte, der seinem Schreibtisch gegenüberstand.
»Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte«, erklärte sie scheu lächelnd. »Vorher war ich in der Klinik. Bastian hatte eine unruhige Nacht und er schläft jetzt. Deshalb dachte ich, ich nutze die Zeit und komme zu Ihnen. Schön, dass Sie gleich Zeit für mich haben.«
Daniel antwortete nicht sofort. Er begriff nicht, dass diese offenbar sehr vernünftige Frau nicht einsah, dass sie im Begriff war, ihre Ehe zu zerstören. Und nicht nur das. In ihrem aparten aber angespannten Gesicht tauchten unübersehbar erste Spuren der harten Arbeit, der vielen Reisen, der Rastlosigkeit auf.
»Sie tun sich nichts Gutes, wenn Sie so viel arbeiten, Frau Keinath«, sagte er eindringlich.
»Mir ist klar, dass dieses Tempo auf Dauer nicht gesund sein kann«, räumte Melina sachlich ein. »Aber ich plane ja auch nicht, den Rest meines Lebens auf der Überholspur zu verbringen.«
»Was planen Sie dann?«
Sie sah den Arzt lange und sehr nachdenklich an.
»Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Sie mich wenigstens ein bisschen verstehen. Schließlich haben Sie mit Sicherheit auch viel gearbeitet, um dorthin zu kommen, wo Sie heute stehen.«
»Das stimmt«, räumte Daniel ein. »Aber ich bin dabei nicht über Leichen gegangen. Meine Frau, meine Familie standen für mich immer an erster Stelle.«
Melina schluckte. Mit so harten Worten hatte sie nicht gerechnet.
»Nur weil ich jetzt ein paar stressige Monate habe, heißt das noch lange nicht, dass ich meine Interessen ohne Rücksicht auf Verluste verfolge«, erklärte sie trotzig.
Sie knibbelte an einem abgebrochenen Fingernagel, ein deutliches Zeichen ihrer Nervosität.
»Wenn ich Ihrem Mann so zuhöre, klingt das aber durchaus so.«
»Wirklich?« Ein schnippisches Lächeln spielte um Melinas Mundwinkel. »Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass es ausgerechnet mein Mann war, der mir zu diesem Projekt geraten hat? Dass Bastian mir Mut machte, auf Huberts Vorschlag einzugehen?«, fragte sie fast triumphierend.
»Dann würde ich sagen, dass Ihr Mann die Sachlage falsch eingeschätzt hat. Wie Sie meiner Meinung nach übrigens auch.« Der strenge Ausdruck in Daniels Gesicht wurde etwas milder. »Sie wirken sehr erschöpft.«
Sein Mitgefühl war entwaffnend.
»Das bin ich auch«, gestand Melina nach kurzem Zögern kleinlaut.
»Warum schalten Sie dann nicht ein paar Gänge runter? Was treibt Sie an? Geht es ums Geld?«
Energisch schüttelte Melina den Kopf.
»Nein, das ist es nicht. Bastian und ich sind finanziell gut aufgestellt. Es geht mir um die berufliche Anerkennung. Ich habe niemals damit gerechnet, mit meiner Arbeit bekannt zu werden. Und dann ist es einfach passiert. Quasi über Nacht wurden meine Möbel berühmt und mit der Fotoserie ich dazu. Das war ein tolles Gefühl.« Während sie ihre Geschichte erzählte, hatten Melinas Augen zu glänzen begonnen. Doch das Strahlen verschwand fast sofort wieder. »Es war so lange toll, bis ich bemerkte, dass es zwar schwierig war, dorthin zu kommen, wo ich war. Aber dass es noch ungleich härter ist, auch dort zu bleiben. Unsere Zeiten sind so schnelllebig geworden. Tag für Tag prasseln so viele verschiedene Eindrücke auf die Menschen ein. Fernsehen, Internet, Zeitungen …, um wenigstens eine kleine Spur in den Köpfen der Leute zu hinterlassen, muss man einen immensen Aufwand betreiben, sich ständig was Neues einfallen lassen.«
Aufmerksam hatte Daniel Norden den Ausführungen der Möbelrestauratorin gelauscht. Melina hatte in allem Recht, was sie sagte. Trotzdem war er nicht einverstanden mit ihr.
»Haben Sie sich in letzter Zeit mal gefragt, ob das überhaupt Ihre Welt ist?«, hinterfragte er ihre Worte kritisch. »Haben Sie nicht mit Ihrer Berufswahl schon eindeutig Stellung bezogen, dass Sie eben nicht im immer schneller treibenden Strom mitschwimmen wollen? Dass Ihnen die alten Werte wichtiger sind als alles, was schnell und lieblos produziert wird?«
Die Worte des Arztes verwirrten Melina.
»Ja, schon!« Sie strich sich eine dunkle Strähne aus der Stirn und sah ihn verwundert an. »Eigentlich haben Sie recht.«
Dr. Norden fühlte, dass er auf dem richtigen Weg war.
»Ich möchte ja nicht sagen, dass die Werbekampagnen schlecht waren. Aber wenn Sie qualitativ hochwertige Arbeit abliefern, die nicht nur ein paar Wochen überdauert, wird man sich auch ohne diesen weiteren Wahnsinn an Sie erinnern. Ohne Fotoreihen, die jede Woche in anderen Zeitschriften erscheinen«, erklärte er eindringlich. »Sie müssen an Ihre Gesundheit denken, Frau Keinath. Was glauben Sie, wie lange Sie diesen Stress noch aushalten werden? Wenn Sie so weitermachen, werden Sie in nicht allzu ferner Zukunft zusammenbrechen. Und wenn es ganz schlimm kommt, können Sie Ihren Beruf überhaupt nicht mehr ausüben. Dann wird ein anderer Künstler kommen und den Platz an der Sonne einnehmen. Ist Ihnen das lieber, als sich auf Ihre wahren Werte und Überzeugungen zu konzentrieren?«
Ganz in sich versunken betrachtete Melina Keinath ihre Hände. Noch trugen sie Spuren der Arbeit mit Holz, Werkzeug und Farben. Aber sie waren verblasst und würden schon bald nicht mehr zu sehen sein. Wie die Werte, die Melina Keinath einmal ausgemacht hatten.
»Haben Sie Ihren Mann aus Liebe geheiratet?«, fragte Daniel Norden nach einer Weile.
Melina nickte.
»Ja«, sagte sie leise.
»Was ist aus dieser Liebe geworden? Auch sie war doch einmal ein Wert in Ihrem Leben.«