Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch. Arthur Conan Doyle
bezwingend, fort, »wir sind immer Freunde gewesen – bei allem, was Euch teuer ist, beschwöre ich Euch, mir eine Frage zu beantworten. Um Gottes willen, verweigert mir die Antwort nicht.«
»Was wünscht Ihr zu wissen?« fragte der Mormone, sich ängstlich umblickend; »redet schnell, hier hat alles Augen und Ohren, auch die Felsen und Bäume.«
»Was ist aus Lucy Ferrier geworden?«
»Man hat sie gestern dem jungen Drebber zur Frau gegeben. – Faßt Euch, Mann, faßt Euch – Ihr werdet ja bleich wie der Tod.«
Jefferson war auf den nächsten Felsblock niedergesunken, seine Lippen bebten. »Drebbers Frau, sagt Ihr?« stammelte er mit brechender Stimme.
»Ja, seit gestern – deshalb seht Ihr auch die Stadt noch im Fahnenschmuck. Drebber und Stangerson, die jüngeren, stritten sich um ihren Besitz. Bei der Verfolgung, an der sich beide beteiligt hatten, war ihr Vater von Stangersons Hand gefallen, was diesem ein größeres Vorrecht zu geben schien. Als jedoch die Frage vor die Ratsversammlung gebracht wurde, war Drebbers Anhang stärker und der Prophet entschied zu seinen Gunsten. Es wird sie aber keiner lange sein eigen nennen, sie sieht geisterbleich aus und der Tod stand ihr schon gestern im Gesicht geschrieben. – Wollt Ihr jetzt fort?«
»Ja, ich gehe,« sagte Jefferson, sich mühsam erhebend; sein Antlitz war bleich und starr, wie aus Marmor gemeißelt, nur in seinen Augen glühte ein wildes Feuer.
»Wo wollt Ihr hin?«
»Fragt mich nicht,« erwiderte er und hing sich die Flinte über die Schulter. Dann schritt er die Schlucht hinab und vergrub sich tief in den Bergen, wo nur Bären und Wölfe hausten; aber keines der reißenden Tiere war grimmiger und blutdürstiger als er.
Was der Mormone vorausgesagt hatte, ging nur zu bald in Erfüllung. War es der Schmerz über den plötzlichen Tod ihres Vaters, was der armen Lucy am Lebensmark zehrte, oder der Abscheu vor der verhaßten Ehe, zu der man sie gezwungen – sie siechte von Tag zu Tag dahin und starb noch ehe ein Monat um war. Der rohe Mensch, welcher sie nur geheiratet hatte, um Ferriers reichen Besitz in die Hände zu bekommen, trug wenig Kummer zur Schau über seinen Verlust. Aber seine andern Frauen trauerten um die Tote und hielten in der Nacht vor dem Begräbnis bei ihr die Leichenwache, nach Sitte der Mormonen. Sie saßen noch um die Bahre, als beim ersten Morgengrauen die Thür plötzlich aufging und sie mit Staunen und Entsetzen einen wilddreinschauenden, wettergebräunten Mann in zerfetzter Kleidung eintreten sahen. Ohne auch nur einen Blick auf die geängstigten Frauen zu werfen, schritt er nach dem Totenschrein, in dem Lucys entseelte Hülle ruhte. Er beugte sich über sie und berührte ihre kalte Stirn ehrfurchtsvoll mit den Lippen, dann ergriff er sie bei der Hand und zog ihr den Trauring vom Finger. »Den soll man ihr nicht mit ins Grab geben,« murmelte er dumpf. Bevor noch jemand die rätselhafte Erscheinung anhalten konnte, verschwand sie wieder, wie sie gekommen war. Das alles geschah so rasch, und der Vorgang schien so seltsam, daß man dem Bericht der Wächterinnen schwerlich Glauben geschenkt hätte, ohne die Thatsache, daß der goldene Reif wirklich vom Finger der Toten verschwunden war.
Monatelang hauste Jefferson Hope noch in den Bergen, wo er ein unstätes Jägerleben führte und für seinen Rachedurst täglich neue Nahrung einsog. Man begann sich allerwärts von dem unheimlichen Gesellen zu erzählen, der bald hier, bald da, in der Umgegend der Stadt oder in den rauhen Bergschluchten sein Wesen trieb. Einmal kam eine Kugel durch Stangersons Fenster geflogen und pfiff dicht an seinem Kopf vorbei. Ein andermal, als Trebbers Weg ihn am Bergabhang hinführte, ward aus der Höhe ein Felsstück auf ihn herabgeschleudert. Er konnte nur dadurch einem gräßlichen Tode entgehen, daß er sich platt zu Boden warf. Die beiden jungen Mormonen errieten bald, wer ihnen nach dem Leben trachtete, und unternahmen mehrere bewaffnete Streifzüge ins Gebirge, in der Hoffnung, ihren Todfeind zu fangen oder zu erlegen – aber immer vergebens. Sie gingen nun aus Vorsicht niemals allein oder nach Dunkelwerden ins Freie, und stellten Wachen um ihre Häuser her. Nun verstrich jedoch eine geraume Zeit, ohne weitere Angriffe von seiten ihres Gegners und allmählich schwand ihre Furcht. Sie hofften, sein heißes Blut habe sich abgekühlt und er werde das tollkühne Vorhaben aufgeben.
Daran dachte jedoch Jeffersons Seele nicht. Rache zu nehmen war und blieb sein einziger Zweck und Gedanke. Bei seiner durchaus praktischen Natur hatte er jedoch richtig erkannt, daß selbst die eisernste Gesundheit ein Leben, wie er es führte, auf die Dauer nicht ertragen könne. Mangel an gesunder Nahrung und Beschwerden aller Art mußten bald seine Kräfte verzehren. Was aber sollte aus seiner Rache werden, wenn er in den Bergen eines elenden Todes starb? – Nein, seine Feinde durften nicht triumphieren!
So war er denn nach dem Bergwerk in Nevada zurückgekehrt, mit der Absicht, sich von den Entbehrungen der letzten Zeit zu erholen und Geld genug zu erwerben, um seinen Lebenszweck weiter verfolgen zu können. Ursprünglich gedachte er höchstens ein Jahr lang dort zu bleiben, allein die Umstände fügten es so, daß fünf Jahre vergingen, bevor er zurückkehren konnte. Doch die Erinnerung an das erlittene Unrecht und sein Verlangen nach Rache war noch ebenso lebendig in ihm, wie in jener entsetzlichen Nacht an John Ferners Grabe. Verkleidet und unter falschem Namen kam er nach der Salzseestadt, um die gerechte Sühne zu fordern, sei es auch mit Gefahr des eigenen Lebens. Dort erwartete ihn jedoch eine schlimme Kunde, die seine Pläne zu vereiteln drohte. Einige Monate zuvor war nämlich unter dem ›auserwählten Volke‹ eine Spaltung entstanden. Die Mißvergnügten lehnten sich gegen die Obergewalt der Aeltesten auf; viele der jüngeren Gemeindeglieder verließen Utah und gesellten sich den Ungläubigen zu. Auch Drebber und Stangerson befanden sich unter dieser Zahl. Es ging ein Gerücht, daß Drebber es verstanden habe, den größten Teil seines Eigentums zu Geld zu machen, so daß er als reicher Mann fortgezogen war, während Stangerson, sein Gefährte, wenig Mittel besaß. Wohin sie sich aber gewandt hatten, darüber war kein Aufschluß zu erlangen.
Angesichts solcher Schwierigkeiten hätte mancher noch so rachsüchtige Mensch sein Vorhaben aufgegeben; daran dachte Jefferson jedoch keinen Augenblick. Er reiste von Ort zu Ort durch die Vereinigten Staaten, um seine Feinde aufzusuchen. Das kleine Kapital, welches er besaß, sicherte ihm zur Not sein Auskommen, doch nahm er Arbeit an, wo er sie fand. Jahre vergingen, sein schwarzes Haar war grau geworden, aber immer noch wanderte er weiter, das Ziel verfolgend, dem er sein Leben gewidmet hatte. Endlich ward seine Ausdauer belohnt. In Cleveland im Staate Ohio war es, wo er eines Tages Drebbers verhaßtes Gesicht, an einem Fenster gewahrte. So hatte er seine Beute doch zuletzt noch aufgespürt. Rasch kehrte er in seine ärmliche Wohnung zurück, um seinen Racheplan vorzubereiten. Aber das Unglück wollte, daß auch Drebber bei dem flüchtigen Blick seinen Todfeind erkannt hatte. Er war mit Stangerson, der bei ihm das Amt eines Privatsekretärs versah, zu einem Friedensrichter geeilt, den er um Schutz gegen einen früheren Nebenbuhler bat, welcher ihnen aus Haß und Eifersucht nach dem Leben trachtete. An jenem Abend ward Jefferson Hope plötzlich in Haft genommen und da er außer stande war, Bürgschaft zu leisten, hielt man ihn mehrere Wochen im Gefängnis zurück. Sobald er wieder in Freiheit war, begab er sich nach Drebbers Hause, allein er fand es verlassen und erfuhr, der Besitzer habe mit seinem Sekretär eine Reise nach Europa angetreten.
Wieder war Jeffersons Rachewerk vereitelt und wieder trieb ihn sein grimmiger Haß, die Verfolgung fortzusetzen. Zuvor mußte er sich jedoch die nötigen Mittel für die Ueberfahrt erwerben. Als er genug zusammengespart hatte, um unterwegs sein Leben fristen zu können, schiffte er über den Ozean und folgte der Spur seiner Feinde von Stadt zu Stadt. Immer wieder mißlang es ihm, die Flüchtlinge einzuholen. Bei seiner Ankunft in Petersburg waren sie eben nach Paris gereist, und als er ihnen dahin folgte, hatten sie sich gerade nach Kopenhagen eingeschifft; auch dorthin kam er um einige Tage zu spät, da sie bereits nach London unterwegs waren. In der englischen Hauptstadt gelang es ihm zuletzt doch noch ihrer habhaft zu werden. Auf welche Weise dies geschah, erfahren wir am besten aus Jefferson Hopes eigenem Bericht, welchen Dr. Watson ausführlich in seinem Tagebuch niedergeschrieben hat.
Wir kehren daher wieder zu den Aufzeichnungen des jungen Militärarztes zurück, denen wir schon im ersten Teil unserer Erzählung bis zu Jeffersons Festnehmung gefolgt sind.
Fortsetzung von Dr. Watsons Erinnerungen.
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