Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch. Arthur Conan Doyle

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      »Ja, und zwar erst heute. Deshalb bin ich hier. Diesen Morgen erhielt ich einen Brief – bitte lesen Sie!«

      »Besten Dank! Auch das Couvert, wenn ich bitten darf! Poststempel London SW Datum 17. Juli. Hm! Auf der Ecke der Abdruck eines Mannsdaumens – vermutlich des Briefträgers – Papier von der besten Sorte, Couvert desgleichen. Der Mann ist wählerisch in Schreibmaterialien. Keine Anrede. ›Stellen Sie sich heute abend um sieben Uhr vor dem Lyceum-Theater ein. Wenn Sie Mißtrauen hegen, bringen Sie zwei Freunde mit. Es ist Ihnen Unrecht geschehen und Sie sollen Ihr Recht haben. Bringen Sie niemand von der Polizei. Thun Sie das, so ist alles vergebens. Ihr unbekannter Freund.‹ – Wahrhaftig ein interessantes, kleines Geheimnis! Was gedenken Sie zu thun, Fräulein Morstan?«

      »Darüber wollte ich eben Ihren Rat hören.«

      »Nun, dann werden wir sicherlich hingehen – Sie und ich und – jawohl – Doktor Watson ist gerade der richtige Mann. Der Brief sagt, zwei Freunde. Wir haben schon früher einmal zusammen gearbeitet, er und ich.«

      »Würde er aber auch mitkommen wollen?« fragte sie mit bittender Gebärde.

      »Ich werde stolz und glücklich sein, wenn ich mich nützlich machen kann,« rief ich lebhaft.

      »Sie sind beide sehr gütig,« erwiderte sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und wüßte keinen Freund, an den ich mich wenden könnte. Wird es früh genug sein, wenn ich um sechs Uhr hier bin?«

      »Kommen Sie ja nicht später,« sagte Holmes. »Noch eine Frage: Ist dies die nämliche Handschrift, wie auf den Adressen der Perlschachteln?«

      »Sehen Sie selbst,« antwortete sie, ihm ein halbes Dutzend Papierschnitzel vorzeigend.

      »Sie sind ja eine wahre Muster-Klientin. Sie haben das richtige Verständnis. Das ist schön!« Er breitete die Zettel auf dem Tisch aus, und sein rascher, scharfer Blick wanderte von einem zum andern. »Der Schreiber hat seine Hand verstellt, ausgenommen bei dem Brief, darüber kann kein Zweifel bestehen. Sehen Sie, wie das griechische ε überall durchbrechen will, und hier den Schnörkel am Schluß. Sie stammen unzweifelhaft von derselben Person. Ich möchte keine falschen Hoffnungen erregen, Fräulein Morstan, aber – besteht irgend eine Aehnlichkeit zwischen dieser Handschrift und derjenigen Ihres Vaters?« –

      »Nicht die geringste.«

      »Das dachte ich mir wohl. Also um sechs Uhr werden wir Sie erwarten. Erlauben Sie mir, die Papiere zu behalten, ich kann vielleicht vorher noch etwas in der Sache thun. Es ist erst halb vier. Auf Wiedersehen!«

      »Auf Wiedersehen,« sagte die junge Dame in heiterm Ton, steckte die Perlschachtel wieder ein und eilte mit freundlichem Gruße fort. Vom Fenster aus sah ich sie schnellen Schrittes die Straße hinuntergehen, bis das graue Hütchen mit der weißen Feder nur noch ein Punkt in der dunklen Menschenmenge war.

      »Ein höchst anziehendes Mädchen,« sagte ich zu meinem Gefährten gewandt.

      Holmes hatte seine Pfeife wieder angezündet und sich mit halbgeschlossenen Augen in den Stuhl zurückgelehnt. »So?« sagte er langsam – »ist mir nicht aufgefallen.«

      »Sie sind wirklich ein Automat – eine Rechenmaschine!« rief ich. »Zu Zeiten ist gar kein menschliches Leben in Ihnen.«

      »Man darf sein Urteil nie von persönlichen Eigenschaften beeinflussen lassen,« entgegnete er mit mattem Lächeln, »das ist von der größten Wichtigkeit. Für mich ist ein Klient nichts als eine Figur, ein Faktor in einem Problem. Gefühle sind dem klaren Denken feindlich. Der Schein trügt nur zu oft. Das liebreizendste Frauenzimmer, das mir vorgekommen ist, wurde gehängt, weil sie drei kleine Kinder um ihrer Lebensversicherung willen vergiftet hatte, und der allerabstoßendste Mann meiner Bekanntschaft ist ein Menschenfreund, der beinahe eine Viertelmillion für die Armen Londons verwendet hat.«

      »In diesem Fall indessen –«

      »Ich mache niemals Ausnahmen. Eine Ausnahme stößt die Regel um. Haben Sie jemals versucht, den Charakter aus der Handschrift zu bestimmen? Wie urteilen Sie über diesen Menschen nach seinem Geschreibsel?«

      »Es ist leserlich und regelrecht. Ein Geschäftsmann, nicht ohne Charakterstärke, sollte ich meinen.«

      Holmes schüttelte den Kopf. »Sehen Sie seine langen Buchstaben an; sie erheben sich kaum über die kleinen. Dieses d könnte ein a sein, und das s ein l. Bei charaktervollen Menschen unterscheiden sich die langen Buchstaben immer, mögen sie sonst noch so unleserlich schreiben. Aus diesen Anfangsbuchstaben spricht Selbstbewußtsein, und die k‘s verraten Schwanken und Unsicherheit. – Jetzt gehe ich aus; ich habe noch einige Erkundigungen einzuziehen. In einer Stunde bin ich wieder da.«

      Ich saß am Fenster, ein Buch in der Hand, aber lesen konnte ich nicht. Meine Gedanken waren noch ganz und gar von unserem Besuch eingenommen – ihr Lächeln, die tiefen, vollen Töne ihrer Stimme, das sonderbare Geheimnis, das über ihrem Leben schwebte, beschäftigte mich. Wenn sie, als ihr Vater verschwand, siebzehn Jahre alt war, so mußte sie jetzt siebenundzwanzig sein – ein angenehmes Alter, wenn die Jugend ihre Selbstüberhebung abgeworfen hat, und etwas durch die Erfahrung ernüchtert ist.

      Lange saß ich da und sann, bis so gefährliche Gedanken mir in den Kopf kamen, daß ich eiligst an meinen Schreibtisch ging und mich in die neueste Abhandlung über Pathologie vertiefte. – Wie konnte ich, ein Militärarzt mit einem schwachen Arm und noch schwächerem Bank-Depot, es wagen, an solche Dinge auch nur zu denken? Sie war eine Figur, ein Faktor, sonst nichts für mich. Wenn mein Geschick düster war, so ziemte es sich wahrlich besser, der Zukunft wie ein Mann entgegen zu gehen, statt zu versuchen, sie durch phantastische Irrlichter aufzuhellen. –

       Zurück

      Erst um halb sechs Uhr kam Holmes zurück. Er war heiter, lebhaft, überhaupt in vortrefflicher Stimmung.

      »Es ist kein großes Geheimnis bei der Angelegenheit,« sagte er, wahrend ich ihm eine Tasse Thee eingoß. »Mir scheint, die Thatsachen lassen nur eine mögliche Erklärung zu.«

      »Was! Sie haben schon die Lösung gefunden?«

      »Nicht doch, das wäre zu viel gesagt. Ich habe nur ein Faktum entdeckt, das mich auf eine Vermutung führt, welche viel für sich hat. Alle Einzelheiten schien mir noch. Ich habe nämlich eben die Register der Times durchgesehen und dabei gefunden, daß Major Scholto von Ober-Norwood, ehemals im 34. Regiment der Bombay-Infanterie, am 28. April 1882 gestorben ist.«

      »Ich muß wohl sehr schwer von Begriffen sein, Holmes, denn ich sehe durchaus nicht, wie das mit dem Fall zusammenhängen kann.«

      »Nicht? Das wundert mich. Betrachten Sie es einmal von folgendem Gesichtspunkt: Hauptmann Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben könnte, ist Major Scholto, aber der Major leugnet, etwas von seiner Anwesenheit in London gewußt zu haben. Vier Jahre später stirbt Scholto. Eine Woche nach seinem Tode erhält Hauptmann Morstans Tochter ein wertvolles Geschenk. Die Sendung wiederholt sich von Jahr zu Jahr und jetzt kommt noch ein Brief, welcher ausspricht, daß ihr Unrecht geschehen ist. Welches andre Unrecht kann damit gemeint sein, als daß man ihr den Vater geraubt hat? Warum sollten die Geschenke unmittelbar nach Scholtos Tode anfangen, wenn nicht, weil der Erbe Scholtos das Geheimnis kennt und die Tochter zu entschädigen wünscht? Wissen Sie irgend eine andere Art und Weise, wie sich die Thatsachen deuten lassen?«

      »Aber was für eine sonderbare Entschädigung! Und wie wunderlich ausgeführt! Warum hat er den Brief erst jetzt geschrieben und nicht schon vor sechs Jahren? Zudem sagt er, daß sie zu ihrem Recht kommen werde. Soll das etwa heißen, daß ihr Vater noch lebt? Schwerlich. Von einer andern Ungerechtigkeit wissen wir aber in ihrem Fall nichts.«

      »Natürlich ist noch vieles unaufgeklärt,« sagte Holmes nachdenklich;


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