Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch. Arthur Conan Doyle
Holmes diplomatisch. »Was für ein lieber rotbäckiger Schelm! Sag’ mal Jack, was soll ich dir schenken!«
Der Junge sann einen Augenblick nach.
»‘nen Schilling,« sagte er.
»Giebt es nichts, was du noch lieber haben möchtest?«
»Doch, zwei Schillinge,« rief der kleine Thunichtgut rasch.
»Nun gut. Paß’ auf und fang’ einmal! – Ein hübsches Kind, Frau Smith.«
»Jawohl, Herr, und groß und stark für sein Alter. – Er läßt sich kaum mehr regieren, besonders wenn mein Mann den ganzen Tag über fort ist.«
»Ist er fort?« sagte Holmes mit enttäuschtem Ton. »Das thut mir leid, ich wollte ihn sprechen.«
»Seit gestern früh schon ist er fort, Herr, und ich fange wahrhaftig an Angst zu bekommen, weil er so lange bleibt. – Wenn es aber wegen eines Bootes ist, könnte ich Sie vielleicht auch bedienen.«
»Ich möchte sein Dampfboot mieten.«
»Ach, Herr, im Dampfboot ist er ja gerade fort. Das macht mich so stutzig, denn ich weiß, es hat nicht genug Kohlen bis nach Woolwich und wieder zurück. Hätte er die Barke genommen, dann wäre es ein ander Ding. Die hat ihn schon oft in Geschäften bis nach Gravesend gebracht, und wenn’s dann dort viel zu schaffen gab, ist er wohl über Nacht geblieben. Aber was nützt ihn ein Dampfboot ohne Kohlen?«
»Vielleicht hat er auf einer Werft unten am Fluß Kohlen gekauft?«
»Möglich; aber das sähe ihm nicht gleich. Er schimpft ja immer über das Heidengeld, das sie verlangen, wenn man nur ein paar Säcke kauft. Auch traue ich dem Stelzfuß nicht recht mit seinem häßlichen Gesicht und dem ausländischen Geschwätz. Was der nur mit meinem Alten zu schaffen haben mag!«
»Ein Stelzfuß?« – sagte Holmes und machte große Augen.
»Ja, Herr, ein brauner Bursch mit einem Affengesicht, der mehr als einmal hier nach meinem Alten gefragt hat. Letzte Nacht hat er ihn herausgeklopft; mein Mann muß wohl gewußt haben, daß er kommen würde, denn er hatte Dampf im Boot. Ich sage Ihnen gerade heraus, Herr, die Sache ist mir nicht geheuer.«
»Aber liebe Frau Smith,« sagte Holmes, die Achseln zuckend, »Sie beunruhigen sich ohne alle Not. Wie können Sie denn wissen, daß es der Stelzfuß war, der bei Nacht kam? Ich verstehe nicht, wie Sie das mit solcher Bestimmtheit annehmen können.«
»Seine Stimme, Herr, die erkannte ich gleich. Sie klingt so rauh und verschleiert. Er klopfte an die Scheiben – es kann um drei Uhr gewesen sein. ›Steh’ auf, Kamerad,‹ rief er, ›‘s ist Zeit, auf Wache zu ziehen.‹ Mein Alter weckte den Jim – das ist mein Aeltester – und fort gingen sie, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen. Ich konnte den hölzernen Stumpf auf den Steinen klappern hören.«
»War denn der Stelzfuß allein?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen, Herr. Ich habe niemand sonst gehört.«
»Es thut mir leid, Frau Smith, ich hätte gern ein Dampfboot gehabt und die Leute loben Ihr Fahrzeug – wie heißt es doch?«
»Die ›Aurora‹, Herr.«
»Richtig! – Das ist aber nicht das alte, grüne Boot mit den gelben Streifen, das so breit im Vorderteil ist?«
»Bewahre; ein so schmuckes, kleines Ding, als nur je eines auf dem Fluß war. Es ist frisch angestrichen, schwarz, mit zwei roten Streifen.«
»Besten Dank, Frau Smith. Hoffentlich bekommen Sie bald Nachricht von Ihrem Mann. Ich gehe gerade den Fluß hinunter und wenn ich etwas von der ›Aurora‹ sehen sollte, will ich ihn wissen lassen, daß Sie in Sorge sind. Ein schwarzer Dampfschlot, sagten Sie?« –
»Nein, Herr. Schwarz mit einem weißen Rundstreifen.«
»Ja, ja, natürlich. Es waren die Bootseiten, die schwarz sind. Guten Morgen, Frau Smith. – Jetzt wollen wir uns dort in der Fähre übersetzen lassen, Watson, der Bootsmann wartet eben.« – Wir nahmen auf der Bank der Fähre Platz. »Die Hauptsache bei Leuten der Art,« sagte Holmes, »ist, sie niemals merken zu lassen, daß ihre Mitteilungen von irgend welcher Wichtigkeit für uns sind. Sobald sie das denken, sind sie augenblicklich stumm wie eine Auster. Wenn man ihnen dagegen gleichsam widerwillig zuhört, erfährt man meist alles, was man zu wissen wünscht.«
»Unser Kurs scheint jetzt ziemlich klar,« sagte ich.
»Nun, was würden Sie denn zuerst thun?«
»Ich würde ein Boot mieten und der ›Aurora‹ nachfahren, den Fluß hinunter.«
»Lieber Freund, das wäre eine Riesenaufgabe. Das Dampfboot kann auf jeder beliebigen Werft an der einen oder andern Seite des Stromes, zwischen hier und Greenwich, angelegt haben. Jenseits der Brücke ist meilenlang ein vollständiges Labyrinth von Landungsplätzen. Diese sämtlich zu durchforschen, würde uns Tage und Tage kosten, wenn wir es allein unternehmen.«
»So wenden Sie sich an die Polizei!«
»Nein. Ich werde Athelney Jones wahrscheinlich erst im letzten Augenblick herbeirufen. Er ist kein schlechter Bursch, und ich möchte nichts thun, was ihm in seinem Beruf zum Schaden gereichen kann. Aber ich habe mir in den Kopf gesetzt, ohne ihn fertig zu werden, nun wir es einmal so weit gebracht haben.«
»Vielleicht sollten wir eine Anzeige einrücken und uns von den Werftmeistern Nachricht erbitten.«
»Das wäre höchst verfehlt! Unsere Leute wüßten gleich, daß die Jagd ihnen dicht auf den Fersen ist und würden auf und davon gehen, wahrscheinlich außer Landes. So lange sie sich noch sicher wähnen, haben sie wenigstens keine Eile. Mit Rücksicht hierauf kommt uns Jones’ Vorgehen sehr zu statten; ein Bericht seiner Thaten dringt sicherlich in die Zeitungen und die Flüchtlinge werden daraus entnehmen, daß die Polizei sehr geschäftig ist – auf der falschen Fährte.«
»Was fangen wir denn aber jetzt an?« fragte ich, als wir bei Millbank landeten.
»Wir nehmen am besten eine Droschke, fahren nach Hause, lassen uns ein Frühstück geben und schlafen ein paar Stunden. Es ist sehr möglich, daß wir gegen Abend wieder auf den Beinen sein müssen. – Nach dem nächsten Telegraphenbureau, Kutscher! Toby wollen wir bei uns behalten; er kann uns vielleicht noch nützlich sein.« –
Wir hielten vor dem Postamt in der Großen Petersstraße und Holmes gab seine Drahtbotschaft auf.
»An wen glauben Sie, daß ich telegraphiert habe?« fragte er, als wir die Fahrt fortsetzten.
»Wie soll ich das wissen!«
»Erinnern Sie sich an das Freiwilligenkorps aus der Bakerstraße, das mir in Jeffersohn Hopes Fall Polizeidienste leistete?«
»Das will ich meinen,« rief ich lachend.
»Dies ist gerade eine Gelegenheit, bei der sich die Buben unschätzbar erweisen können. Mißlingt es ihnen, so habe ich noch andere Hilfsquellen; den Versuch mache ich jedenfalls. Das Telegramm ist an meinen kleinen, schmutzigen Leutnant Wiggins abgegangen, und ich erwarte, daß er mit seiner Truppe vor uns erscheinen wird, ehe wir noch mit dem Frühstück fertig sind.«
Es war jetzt zwischen acht und neun Uhr und ich fühlte mich nach den mannigfachen Aufregungen geistig und körperlich müde und abgespannt. Ich konnte den Fall weder als reine Verstandesaufgabe betrachten, noch mich leidenschaftlich dafür begeistern, wie mein Gefährte. Von Bartholomäus Scholto hatte ich so wenig Gutes gehört, daß mir seine Mörder keinen allzugroßen Abscheu einflößten. Die Wiedererlangung des Schatzes freilich erschien auch mir von Wichtigkeit. Ein Teil desselben kam ohne Frage Fräulein Morstan zu, und ich war bereit, alles daran zu setzen, damit sie ihr Recht erlange. Zwar wenn ich ihn fand, so hob sein Besitz sie wahrscheinlich für immer aus meinem Bereich, aber das müßte eine kleinliche und selbstsüchtige Liebe sein, die sich durch solche Gedanken beeinflussen ließe. Wenn Holmes keine Anstrengung scheute, um die Verbrecher