Gesammelte Werke. Aristoteles
weil beiden die Zuversicht eigen ist. Doch besitzen die Mutigen sie aus den angegebenen Gründen, solche Leute aber nur darum, weil sie meinen, sie seien die Stärkeren und hätten kein Unheil zu befahren. So machen es aber auch diejenigen, die sich einen Rausch angetrunken haben. Sie werden hoffnungsfreudig; kommt es aber anders, als sie denken, so machen sie sich aus dem Staube. Dagegen galt es uns für die Art des Mutigen, dem, was für einen Menschen furchtbar ist oder scheint, darum die Stirne zu bieten, weil es so sittlich schön und das Gegenteil häßlich ist. Darum gehört auch gewiß größerer Mut dazu, in plötzlichen Gefahren furchtlos und unerschrocken zu sein, als in vorhergesehenen. Denn jenes entspringt mehr aus einem festen Habitus oder beruht auch weniger auf Vorbereitung. Für Vorausgewußtes entscheidet man sich wohl auch auf Grund von vernünftiger Überlegung, für Unvorhergesehenes dagegen nach seinem besonderen Habitus.
Mutig scheinen auch die Unwissenden zu sein, und sie stehen nicht weit von den Hoffnungsfreudigen ab, sind aber doch schlechter, weil sie gar keine Selbstachtung haben. Jene dagegen haben sie und halten darum auch eine Zeitlang stand. Die aber nur getauscht sind, wenden sich, wenn sie merken, daß es anders steht, als sie meinten, alsbald zur Flucht. So erging es den Argivern, als sie auf die Lakoner stießen, während sie meinten, es seien die Sikyonier78.
So wäre denn dargelegt, von welcher Beschaffenheit die Mutigen sind samt denen, die nur so scheinen.
Zwölftes Kapitel.
Obgleich der Mut es mit den Affekten der Zuversicht und der Furcht zu tun hat, so doch nicht mit beiden gleich sehr, sondern mehr mit den furchterregenden Dingen. Wer bei solchen sich nicht beunruhigt und ihnen gegenüber sich recht verhält, ist mutiger, als wer es den muterweckenden Dingen gegenüber tut. Demnach wird man, wie gesagt worden, darum mutig genannt, weil man das Schmerzliche erträgt. Deshalb ist der Mut mit Schmerz verknüpft und erhält gerechtes Lob. Denn es ist schwerer, Schmerzliches zu ertragen, als sich des Lustbringenden zu enthalten.
(1117b) Nun erscheint ja freilich das Ziel des Mutes als lustbringend, jedoch möchte die Lust leicht vor dem, was sie rings umgibt, verschwinden, wie es bei den Wettkämpfen der Fall ist. Denn den Faustkämpfern macht das Ziel, dessentwegen sie fechten, der Kranz und die Ehre, Freude, die Schläge aber, die sie erhalten, thuen ihnen, da sie doch menschliches Fleisch besitzen, weh und machen ihnen, zusammen mit aller ihrer Mühe und Anstrengung, Leid; und da nun des Unangenehmen für sie soviel, das Ziel aber gering ist, so scheint dasselbe gar nichts Lustbringendes an sich zu haben. Steht es nun der Art auch mit dem Mute, so müssen Tod und Wunden dem Mutigen schmerzlich und unwillkommen sein, und doch wird er sie willig hinnehmen, weil dieses sittlich schön und sein Gegenteil häßlich ist. Und je mehr er die ganze Tugend besitzt und je glücklicher er ist, um so schmerzlicher fällt ihm das Sterben. Denn einem Manne wie ihm gebührt es am meisten zu leben, und der Tugendhafte wird mit offenen Augen der höchsten Güter beraubt, und dieses muß ihn schmerzen79. Darum aber ist sein Mut nicht geringer, sondern eher wohl größer, weil er das Ruhmvolle im Kriege jenen Gütern vorzieht. So ist denn nicht bei allen Tugenden insgesamt das Moment der lustbringenden Tätigkeit zu finden, außer insofern sie ihr Ziel erreicht. Die besten Lohnsoldaten mögen aber Männer der beschriebenen Art nicht sein, sondern das sind eher solche, die von dem wahren Mute weniger als sie, von sonstigen sittlichen Werten aber nichts besitzen. Derlei Leute sind bereit, allen Gefahren entgegenzugehen und ihr Leben für eine Kleinigkeit aufs Spiel zu setzen.
Über den Mut sei denn soviel gesagt. Sein Wesen wenigstens im Umriß zu bestimmen, kann nach dem Obigen nicht schwer fallen80.
Dreizehntes Kapitel.
Nach dem Mute wollen wir von der Mäßigkeit handeln, da diese beiden die Tugenden des unvernünftigen Seelenteils sind81.
Wir haben schon bemerkt, daß die Mäßigkeit die Mitte in Bezug auf die Lust ist. Mit der Unlust hat sie es weniger und nicht in gleicher Weise zu tun. In demselben Bereiche bewegt sich die Unmäßigkeit.
Wir wollen also nun bestimmen, auf was für Lüste und Ergötzungen sie sich bezieht. Man muß zwischen seelischen und leiblichen Lüsten unterscheiden; den ersteren gehören z. B. der Ehrgeiz und die Wißbegierde an. Man freut sich da beide Male, das zu haben, was man liebt, wobei nicht der Leib, sondern vielmehr die Seele, der Geist, affiziert wird82. Mit Bezug auf solche Lust wird aber niemand mäßig oder unmäßig genannt. Ebensowenig mit Bezug auf eine andere nicht leibliche Lust. Wer z. B. gern allerlei Geschichten hört und erzählt und sich über alles Mögliche tagelang unterhält, den nennen wir wohl einen Schwätzer, (1118a) aber nicht unmäßig, und auch den nennen wir nicht so, der sich über den Verlust von Geld oder Freunden ungebührlich grämt.
Die Mäßigkeit im Gegenteil bezieht sich auf die leiblichen Lüste, aber auch hier wieder nicht auf alle. Wer an Dingen, die unter den Gesichtssinn fallen, wie Farben, Gestalten, Bildern, Freude hat, wird weder mäßig noch unmäßig genannt, und doch gibt es auch bei solcher Art Freude ein rechtes Maß und ein Zuviel und Zuwenig. Ebenso ist es mit dem, was unter das Gehör fällt. Wer übermäßiges Vergnügen an Musik oder am Theater hat, den nennt niemand unmäßig, so wenig wie man einen, der hier Maß hält, mäßig nennt. Auch das Verhalten in Bezug auf den Geruchssinn wird nicht so bezeichnet, es sei denn blos mitfolgender Weise. Den nämlich, der Freude an dem Dufte von Äpfeln, Rosen und Rauchwerk hat, nennen wir nicht unmäßig sondern vielmehr den, der sie hat am Geruch von Leckereien und Salben (wie die Weiber sie gebrauchen). An solchem Geruch freut der Unmäßige sich, weil er dadurch an die Gegenstände seiner Begierde erinnert wird. Auch sonst sieht man wohl, wie ein Hungriger am Geruch von Speisen sich freut; aber sich an Dingen von jener Art zu ergötzen, verrät den Unmäßigen; denn dessen Begierde ist auf sie gerichtet.
Die anderen lebenden Wesen ergötzen sich in Rücksicht auf die bezeichneten Sinne nur mitfolgend. Die Hunde freuen sich nicht am Geruch des Hasen, sondern an seinem Fraße, aber der Geruch brachte sie auf seine Fährte. Und der Löwe freut sich nicht am Brüllen des Ochsen, sondern daran, daß er ihn verzehren kann. Seine Nähe aber wurde er durch seine Stimme gewahr, und darum sieht es so aus, als freute er sich an ihm. Desgleichen freut er sich nicht darum, weil er einen Hirsch oder eine wilde Ziege gesehen oder aufgespürt hat, sondern weil er einen Fraß haben wird. Mithin hat es die Mäßigkeit und die Unmäßigkeit mit denjenigen Lüsten zu tun, an denen auch die anderen Sinnenwesen Anteil haben, weshalb solche Lust auch als knechtisch und tierisch erscheint. Das ist die Lust des Gefühls und des Geschmacks.
Freilich scheint für die Unmäßigen auch der Geschmack wenig oder gar nicht in Betracht zu kommen. Denn die eigentliche Geschmacksfunktion ist das Kosten der Geschmäcke, wie es beim Proben der Weine und dem Bereiten der Speisen üblich ist. Hieran aber ergötzt man sich nicht allzusehr, wenigstens hat der Unmäßige es hiermit nicht zu tun, sondern mit dem Sinnenkitzel, der ganz durch das Gefühl vermittelt ist, beim Essen, Trinken und dem nach der Aphrodite genannten Genuß; daher sich auch ein gewisser Schlemmer einen Hals länger als den eines Kranichs wünschte, weil seine Lust auf dem Gefühl beruhte83. (1118b) Es ist also der gemeinste Sinn, mit dem es die Unmäßigkeit zu tun hat, und mit Recht gilt sie als schimpflich, weil sie uns nicht anhaftet, insofern wir Menschen, sondern insofern wir Sinnenwesen nach Art der Tiere sind. Darum ist es tierisch, sich an solchen Dingen zu erfreuen und sie am meisten zu lieben. Die edelsten auf dem Gefühl beruhenden Genüsse fallen freilich nicht in den Bereich der Mäßigkeit und Unmäßigkeit,