Gesammelte Werke. Aristoteles
von den Übeln so wenig als möglich mitteilen soll, daher der Ausspruch:
»Genug, daß ich unglücklich bin.«266
Am ersten noch darf man sie in solchen Fällen in Anspruch nehmen, wo sie uns mit geringer Mühe einen großen Dienst erweisen können. Dagegen dürfte es schicklich sein, ungerufen und ungesäumt zu den Freunden hinzugehen, wenn sie von Mißgeschicken betroffen worden sind – denn es ist Freundespflicht, wohl zu tun, besonders denen, die in Not sind und uns nicht darum gebeten haben, was für beide Teile würdiger und seliger ist –. Sind aber unsere Freunde in glücklichen Umständen, so gehe man gern zu ihnen, wenn man ihnen dienlich sein kann; denn dazu hat man den Freund; aber nur ungern und langsam, wenn es gilt, Wohltat anzunehmen. Denn geflissentlich Nutzen von anderen ziehen, ist nicht schön. Den Schein der Sprödigkeit muß man aber freilich vermeiden, wenn man Freundeshilfe ablehnt; denn es kommen Fälle vor, wo man solchen Schein wirklich auf sich lädt.
Die Gegenwart der Freunde erscheint also in allen Lebenslagen als begehrenswert.
Zwölftes Kapitel.
Ist nun nicht, wie verliebten Personen der gegenseitige Anblick am liebsten ist und sie diese Wahrnehmung jeder anderen vorziehen, sofern die sinnliche Liebe wesentlich durch sie besteht und entsteht, so auch für Freunde das liebste, zusammen zu leben?
Freundschaft ist ja doch Gemeinschaft.
Auch verhält man sich, wie zu sich selbst, so zum Freunde. Nun ist uns bezüglich unser selbst die Wahrnehmung des Daseins angenehm, mithin auch in bezug auf den Freund. Die Tätigkeit aber, aus der man des anderen Dasein erkennt, vollzieht sich im Zusammenleben, so daß das Streben der Freunde naturgemäß hierauf (1172a) gerichtet ist.
Endlich will jeder was immer ihm als eigentliches Sein oder als des Lebens Endzweck gilt, in Gemeinschaft mit den Freunden treiben. Daher die einen mit dem Freunde trinken, die anderen mit ihm Würfel spielen, wieder andere mit ihm gymnastische Übungen machen oder jagen oder philosophieren, kurz, jeder will das gemeinsam mit dem Freunde treiben, was er von allen Dingen am liebsten hat. Man will ja mit ihm zusammenleben, und darum treibt und teilt man mit ihm dasjenige, was man unter Leben und Zusammenleben versteht.
Daher wird die Freundschaft unter Schlechten eine Gemeinschaft im Bösen. Leichtlebig wie sie sind, nimmt der eine das Schlechte von dem anderen an, und so werden sie beide gleich böse. Dagegen die unter Guten wird eine Gemeinschaft im Guten. Von Tag zu Tag gewinnt sie durch den Umgang an sittlichem Gehalt, und der Fortschritt wird hier durch gemeinsame Tugendübung nicht minder als durch gegenseitige Zurechtweisung herbeigeführt. Jeder nimmt von den ihm zusagenden Eigenschaften des anderen einen Abdruck in sich auf, daher das Dichterwort:
»Edeles lernst du von Edeln.«267
Soviel sei denn von der Freundschaft gesagt. Hieran mag sich die Erörterung von der Lust anschließen.
Zehntes Buch.
Erstes Kapitel.
Hiernach ist die Erörterung der Lust268 an der Reihe. Unser Geschlecht hat nichts so eigen als die Lust, daher man die Jünglinge in der Art erzieht, daß man sie wie mit einem doppelten Steuer269 durch Lust und Unlust lenkt. Auch für die sittliche Tugend scheint es von der allergrößten Wichtigkeit zu sein, daß man den richtigen Dingen Liebe und Haß entgegenbringt270. Denn diese Gefühle erstrecken ihren Einfluß auf alle Lebensverhältnisse, da sie für die Tugend und die Glückseligkeit so wichtig und bedeutsam sind. Man begehrt ja was Lust gewährt, und flieht was schmerzlich ist. Einen so weittragenden Gegenstand darf man daher gewiß nicht mit Stillschweigen übergehen, besonders da über ihn großer Streit der Meinungen herrscht.
Die einen nämlich setzen die Lust dem höchsten Gute gleich, die anderen behaupten umgekehrt, sie sei ganz und gar schlecht, mögen sie das nun wirklich glauben, oder mögen sie es im praktischen Interesse für besser halten, die Lust, wenn sie es auch nicht ist, als schlecht hinzustellen, da die Mehrzahl zu ihr hinneige und den Lüsten fröhne, weshalb man sie nach der entgegengesetzten Seite leiten müsse, um sie so in die rechte Mitte zu bringen.
Indessen dürfte dieses schwerlich das Richtige sein. Wo Gefühle und Handlungen ins Spiel kommen, haben Worte weniger Überzeugungskraft als Werke. Wenn sie nun mit dem, was die Leute an einem beobachten, nicht übereinstimmen, bringt man sich mit seiner strengen Lehre in Mißkredit und macht sogar die Wahrheit selbst verdächtig. (1172b) Denn wenn man den Tadler der Lust sie dennoch in einem einzelnen Falle begehren sieht, meint man leicht, seine Neigung sei in jedem Falle der Lust zugewandt, als ob die eine wäre wie die andere. Denn das Unterscheiden ist nicht die Sache der Menge. Uns dünkt, wahre Grundsätze sind nicht blos für die Wissenschaft von höchstem Werte, sondern ebenso für das Leben. Sie verschaffen sich Glauben, da sie mit den Werken im Einklang stehen, und sind für verständige Hörer ein Sporn, sich nach ihnen zu richten.
Doch genug darüber. Kommen wir jetzt zu den verschiedenen Ansichten über die Lust.
Zweites Kapitel.
Eudoxus271 meinte, die Lust sei das Gute, weil man alles, Vernunftbegabtes und Vernunftloses, nach ihr streben sehe. In allen Dingen aber sei das Begehrte gut und das am meisten Begehrte am besten. So beweise denn die Erscheinung, daß alles zu dem Einen und Selben hingezogen wird, daß dieses für alle das Beste sei. Wie nämlich jedes Wesen seine Nahrung zu finden wisse, so auch was ihm gut sei. So müsse denn was allen gut sei und wonach alles strebe, das Gute schlechthin sein. Diese Lehren fanden aber ihrer Zeit mehr Glauben wegen des tugendhaften Charakters des Eudoxus als um ihrer selbst willen. Denn er galt für einen Mann von nicht gewöhnlicher Mäßigkeit, und so bekam man denn den Eindruck, daß er nicht als Freund der Lust solches lehre, sondern daß es sich wirklich so verhalte. Die Richtigkeit seines Satzes sollte ihm zufolge nicht minder deutlich aus dem Gegenteil der Lust erkannt werden können. Die Unlust nämlich gelte allen an sich als etwas, was man fliehen müsse; demnach müsse das Gegenteil von ihr an sich begehrenswert sein. Am meisten aber sei begehrenswert was wir nicht mit Rücksicht auf ein anderes oder um eines anderen willen begehren. Das sei aber eingestandenermaßen das unterscheidende Merkmal der Lust. Niemand frage, zu welchem Zwecke man sich freuen wolle, und darin spreche sich die Tatsache aus, daß die Freude und die Lust an sich begehrenswert ist. Auch mache sie als Zugabe zu jedwedem Gute, wie zur Übung der Gerechtigkeit oder der Mäßigkeit, dasselbe noch begehrenswerter; nun wachse aber das Gute nur durch sich selbst.
Aber dieses letzte Argument möchte doch wohl lediglich dartun, daß die Lust ein Gut neben anderen ist, nicht mehr als sonst eines. Jedes Gut ist in Verbindung mit einem anderen begehrenswerter als für sich allein. Das ist das Argument, mit dem Plato umgekehrt erweisen will, daß die Lust nicht das Gute ist. Das lustvolle Leben, sagt er, sei im Verein mit Klugheit begehrenswerter als ohne Klugheit; wenn aber das Vereinte besser sei, so sei die Lust nicht das Gute. Denn das Gute an sich könne durch keinerlei