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zu Beginn der 80er-Jahre der schwarze Bevölkerungsanteil in Washington immer kräftiger stieg, wurde es Pierce offenbar mulmig, und er rückte sein Hauptquartier lieber etwas weiter weg. Er kaufte ein über anderthalb Quadratkilometer großes Anwesen nahe Hillsboro/West Virginia, einem entlegenen Dorf in den Appalachen. Dort entstand die neue Zufluchtsstätte, umwehrt mit einem hohen Stacheldrahtzaun. In der Bergeinsamkeit gründete William Luther Pierce einen Verlag, National Vanguard Books, benannt nach dem gleichnamigen Magazin, in dem der Chef und die Seinen unverändert die »rechte« Sicht der Dinge zu vermitteln trachten. Ferner betreibt Pierce von Hillsboro aus einen großen Buchversand. Im Sortiment: bestimmte respektable Werke der abendländischen Kultur, denen man sich (warum und mit welchem Recht auch immer) gedanklich nahe fühlt, dazu heidnisches und neuheidnisches Schrifttum (vieles davon in Penguin-Classics-Ausgaben). Und natürlich jede Menge rechte Programmliteratur aller Art und aller Niveaus: Sachbücher ebenso wie Belletristisches, platte Agitation ebenso wie »Philosophisches« oder gar »Religiöses«. Denn eine Hausphilosophie, ja Hausreligion leistet man sich ebenfalls, den Kosmotheismus. Eigentlich, wollen uns Pierce & Co. weismachen, sei man ja wesentlich mehr als ein Verlag, mehr selbst als ein politischer Verband – nämlich eine religiöse Vereinigung, eine Kirche; konsequent nennt Pierce den Gebäudekomplex, der seine Firma beherbergt, Cosmotheist Church und hat ihn statt mit einem Kreuz mit der altgermanischen »Lebensrune« schmücken lassen, die einem Ypsilon ähnelt, dessen Mittelstrich bis in den V-förmigen Winkel oben verlängert ist und die Schöpfungs- und Lebenskraft symbolisiert. Den Begriff des »Kosmotheismus« hat Pierce nicht erfunden; er wurde von der abendländischen Religionswissenschaft geprägt, um die Weltanschauung bestimmter fernöstlicher Religionen, besonders des Hinduismus, zu charakterisieren. Kosmotheismus heißt: Gott und Welt sind eins; die Welt ist nicht das willentliche Werk eines ihr äußerlichen persönlichen Schöpfergottes, sondern der Akt einer ihr innewohnenden schöpfenden und ordnenden Kraft, eines ewigen Weltgesetzes. Pierce lehnt sich an hinduistische Vorstellungen an, die er freilich fast nur in der Interpretation der Wahl-Hinduistin Savitri Devi kennt. Das höchste Ziel der Weltentwicklung, zitiert Pierce den weiblichen Guru in seinem Hausblatt, sei die Entfaltung »jener geheimnisvollen und unfehlbaren Weisheit, nach der die Natur lebt und schafft, der unpersönlichen Weisheit des Urwalds, der Tiefen des Ozeans und der Sphären in den dunklen Gefilden des Universums«. Pierce lädt nun den Kosmotheismus mit pan-arischem Rassismus auf. Jeder Rasse und jeder Art, so Pierce, sei innerhalb des großen Ganzen eine spezifische Rolle zugewiesen. Der Neger etwa könne nur als Müßiggänger agieren, der Jude nur als Ferment des Verfalls; der Weiße aber trage den Göttlichen Funken in sich, der ihn führe und aufwärts treibe, dem Allerhöchsten Schöpfer entgegen. Dieser bilde beim Weißen einen integralen Teil des eigenen Seins, den er durch Selbstvervollkommnung entwickeln müsse.37 Der neonazistische Chefideologe greift bei seinem Konstrukt zusätzlich auf Platons Ideen- und Seelenlehre zurück, derzufolge ein Menschentum, welches das Seelisch-Ideelle, das letztlich Unsterbliche in sich ausbilde, edler sei als eines, das dem Stofflich-Körperlichen verhaftet bleibe. Zum edlen Menschentum bzw. zur Gottwerdung hätten, so behauptet Pierce nun, nicht alle Rassen Zugang, sondern eben nur die Arier. In solchen Gedanken hallt die Ariosophie der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wider, wie sie besonders Lanz von Liebenfels kultivierte.
Pierces rassistischer Imagination wohnt der messianische Anspruch inne, durch eine Enklave weißer Herrschaft in den Appalachen die arische Rasse zu retten. Rettung des Ariertums – hier berührt sich seine Gedankenwelt mit jener rechtsextremen Grundströmung, die ihren Supremazismus religiös verbrämt und die gemeinhin unter dem Sammelbegriff Christian Identity zusammengefasst wird (vgl. Einleitung). »Christliche Identität« bedeutet in diesem Kontext: christlich, weiß und allen anderen Religionen, Weltanschauungen und Rassen gegenüber feindlich gesinnt. Wesentlich geht die seltsame Glaubensrichtung auf eine fundamentalistische christliche Bewegung im England des späten 19. Jahrhunderts zurück, den Anglo-Israelism, auch British Israelism genannt. Wie die Christian Identity war dieser keine fest strukturierte Organisation, sondern lediglich ein loser Verbund Gleichgesinnter. Den Angelsachsen, so behauptete der Anglo-Israelismus, komme der Status eines auserwählten Volkes zu, denn sie seien die Nachfahren der zehn verlorenen Stämme Israels, von denen das Alte Testament künde. Dazu ein kurzer Blick in die biblische Geschichte. Nach dem Tod König Salomos 926 v. Chr. teilte sich das Volk Israel in zwei Reiche: das Reich Israel im Norden (mit zehn Stämmen) und das Reich Juda (mit zwei Stämmen und der Hauptstadt Jerusalem). 722 v. Chr. nun eroberten die Assyrer das Nordreich; die Bewohner wurden umgesiedelt oder vertrieben. Die beiden Stämme im Reiche Juda lebten als Juden fort, die verstreuten Stämme des Nordreiches dagegen gingen in anderen Völkerschaften auf. Hier setzt die Mythenbildung der Anglo-Israeliten ein: Die verlorenen Stämme seien bis nach Nordwesteuropa gezogen, und die heutigen Briten stammen von ihnen ab. Die Angelsachsen seien die alleinigen Erben der Verheißungen des Alten Testaments; die Juden hätten diese verwirkt, weil sie die zehn nördlichen Stämme einst im Stich gelassen hätten. Zwar reklamierten die Anglo-Israeliten damit recht unbescheiden die Auserwähltheit für die eigene Rasse, zeigten aber wenig bis keine Ressentiments gegenüber den Juden. Ihre geistigen Nachfahren in den USA legten sich da weniger Zurückhaltung auf. Spätestens um 1930 herum setzte sich beim amerikanischen Zweig der Anglo-Israeliten eine grimmige antisemitische Theologie durch, welche die Juden zu eingefleischten Feinden der arischen Rasse in Amerika erklärte. Die angelsächsischen Amerikaner müssten endlich ihre wahre Identität erkennen: Sie seien Muster-Arier und obendrein Abkömmlinge eines biblischen Heldenvolkes, denen die Führung der Welt gebühre; so wurde »Identität« zum Lieblingsschlagwort jener merkwürdigen politisch-religiösen Zwitterbewegung, die seit den frühen Siebzigern von Beteiligten wie von Beobachtern Christian Identity (oft auch kurz »Identity«) genannt wird. Wie schon der Anglo-Israelismus ist auch die Identity nicht straff durchformiert, hat keinen Dachverband, sondern besteht aus mehreren lose kooperierenden Gruppen. Zu den profiliertesten gehört die Church of Jesus Christ Christian, d.h. die »Kirche Jesu Christi des Christen«. Die befremdliche Wortfügung will betonen, dass Jesus keineswegs Jude gewesen sei, sondern eben ein Christ im Sinne der Christian Identity: ein Weißer, ein Arier, ein Nachfahr der verlorenen Stämme Israels. Neben diesem Bund wären zu erwähnen die Aryan Nations, die Church of Christ sowie die New Christian Crusade Church (»Kirche für einen neuen christlichen Kreuzzug«), inzwischen aufgegangen in der Christian Defense League (»Christliche Verteidigungsliga«) des ehemaligen Rockwell-Gefolgsmanns James Warner. Aryan Nations fordert die Errichtung eines Schutzgebietes für Weiße, besser noch eines souveränen weißen Staates im Nordwesten der USA am Pazifik. Zwischen den einzelnen Gruppierungen der Christian Identity mag es Nuancen geben, doch es eint sie alle ein bestimmtes Überzeugungsmuster: Die Weißen, darunter besonders die Briten, sind die Auserwählten Gottes, berufen zur Herrschaft; hinter allen Andersartigen und Andersmeinenden stecken Dämonen; die Weltgeschichte läuft unvermeidlich zu auf die Endschlacht der Arier gegen die zionistisch gesteuerten Mächte der Finsternis, einen Kampf, den, damit die Welt gerettet werde, erstere gewinnen müssen.38
William Pierce ist selbst kein Anhänger oder Unterstützer der Christian Identity (wohl, weil nicht Christ genug), aber gemein hat er mit jenen radikalen Sekten immerhin den Glauben an die Auserwähltheit der Arier und ein bevorstehendes Armageddon wider das jüdisch dominierte politische Establishment. Das beweist nicht zuletzt Pierces Versuch, die eigenen rechtsextremen Überzeugungen literarisch umzusetzen, nämlich sein Roman The Turner Diaries (»Die Turner-Tagebücher«), erschienen 1978. Das Buch, bald ein wahrer Untergrund-Bestseller, imaginiert, wie das erwähnte Armageddon verlaufen könnte. Erzählt wird aus der Sicht eines führend Beteiligten im Stile eines Augenzeugenberichtes. Und was wird erzählt? Ein in naher Zukunft stattfindender Kampf weißer Revolutionäre gegen den amerikanischen Staat, hier verächtlich »das System« genannt, an dessen Spitze eine korrupte und unterdrückerische US-Regierung steht, gelenkt von Liberalen, Juden, Schwarzen und anderen Minderheiten. Mit Antirassismus- und Gleichstellungspolitik sichern sich diese Gruppen ihre Macht. Da beschließt ein junger weißer Patriot aus Los Angeles, Earl Turner, seines Zeichens Elektromechaniker, dass es so nicht weitergehen könne. Er gründet mit ein paar Kombattanten eine subversive Organisation, welche