Die Welträtsel. Ernst Haeckel

Die Welträtsel - Ernst  Haeckel


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je mehr sich der Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur ersteren wurde erst vorbereitet, als im vierten Dezennium des 19. Jahrhunderts die neue vergleichende Physiologie sich zu fruchtbarer Geltung erhob.

      Vergleichende Physiologie. Wie unsere Kenntnisse vom Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner Lebenstätigkeit ursprünglich größtenteils nicht durch direkte Beobachtung am menschlichen Organismus selbst gewonnen, sondern an den nächstverwandten höheren Wirbeltieren, vor allem den Säugetieren. Aber die eigentliche »vergleichende Physiologie«, welche das ganze Gebiet der Lebenserscheinungen von den niedersten Tieren bis zum Menschen hinauf im Zusammenhang erfaßt, ist erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (1801-1858). Ursprünglich ausgehend von der Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Tiere in den Kreis seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen Tiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle Erscheinungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte, erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologischen Erkenntnis.

      Allerdings war Müller ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr prinzipielles Gegenteil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformierte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das »Leben« selbst, d. h. die Summe aller Bewegungserscheinungen, die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Überall war er bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelenleben wie in der Tätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs, der Atmung und Verdauung wie in den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortschritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten Lebenserscheinungen der niederen Tiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso in der Physiologie, wie in der Anatomie.

      Zellularphysiologie. Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche teils schon bei seinen Lebzeiten, teils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichsten Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das gemeinsame Elementarorgan der Pflanzen erkannt und alle verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller sofort die außerordentliche Tragweite dieser bedeutungsvollen Entdeckung; er versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des Tierkörpers die gleiche Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann seinen Schüler Schwann, diesen Nachweis auf alle tierischen Gewebe auszudehnen. Diese schwierige Aufgabe löste der letztere glücklich in seinen »Mikroskopischen Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen« (1839). Damit war der Grundstein für die Zellentheorie gelegt, deren Bedeutung ebenso für die Physiologie wie für die Anatomie seitdem von Jahr zu Jahr zugenommen und sich immer allgemeiner bewährt hat. Daß auch die Lebenstätigkeit aller Organismen auf diejenige ihrer Gewebeteile, der mikroskopischen Zellen, zurückgeführt werden müsse, führten namentlich zwei andere Schüler von Johannes Müller aus, der scharfsinnige Physiologe Ernst Brücke in Wien und der berühmte Histologe Albert Kölliker in Würzburg. Der erstere bezeichnete die Zellen richtig als »Elementar-Organismen« und zeigte, daß sie ebenso im Körper des Menschen wie aller anderen Tiere die selbständig tätigen Faktoren des Lebens sind. Kölliker erwarb sich besondere Verdienste nicht nur um die Ausbildung der gesamten Gewebelehre, sondern auch durch den Nachweis, daß das Ei der Tiere, sowie die daraus entstehenden »Furchungskugeln« einfache Zellen sind.

      So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf gegründete Zellular-Physiologie erst in neuester Zeit selbständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn sich ein doppeltes Verdienst erworben. In seinen »Psychophysiologischen Protisten-Studien« (1889) hat derselbe auf Grund sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von mir (1866) aufgestellte »Theorie der Zellseele« durch das genaue Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß »die psychischen Vorgänge im Protistenreiche die Brücke bilden, welche die chemischen Prozesse in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Tiere verbindet«. Weiter ausgeführt und gestützt auf die moderne Entwickelungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner »Allgemeinen Physiologie«. Dieses ausgezeichnete Werk geht zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt von Johannes Müller zurück, im Gegensatze zu den einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische und chemische Experimente das Wesen der Lebenserscheinungen ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode Müllers und durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen einheitlichen Überblick über das wundervolle Gesamtgebiet der Lebenserscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu der Überzeugung, daß auch die sämtlichen Lebenstätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik und Chemie unterliegen, wie diejenigen aller anderen Tiere.

      Zellularpathologie. Die grundlegende Bedeutung der Zellentheorie für alle Zweige der Biologie bewährte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den großartigen Fortschritten der gesamten Morphologie und Physiologie, sondern auch besonders in der totalen Reform derjenigen biologischen Wissenschaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur praktischen Heilkunst von jeher die größte Bedeutung in Anspruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß die Krankheiten des Menschen wie aller übrigen Lebewesen Naturerscheinungen sind und also gleich den übrigen Lebensfunktionen nur naturwissenschaftlich erforscht werden können, war ja schon vielen älteren Ärzten zur festen Überzeugung geworden. Auch hatten schon im 17. Jahrhundert einzelne medizinische Schulen den Versuch gemacht, die Ursachen der Krankheiten auf bestimmte physikalische oder chemische Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige niedere Zustand der Naturwissenschaften verhinderte einen bleibenden Erfolg dieser berechtigten Bestrebungen. Daher blieben mehrere ältere Theorien, die das Wesen der Krankheit in übernatürlichen oder mystischen Ursachen suchten, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung.

      Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Gedanken, die Zellentheorie vom gesunden auch auf den kranken Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen Veränderungen, welche als bestimmte »Krankheitsbilder« den lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders während der sieben Jahre seiner Lehrtätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese große Aufgabe mit so glänzendem Erfolge durch, daß seine Zellularpathologie mit einem Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische Medizin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für unsere Aufgabe ist diese Reform der Medizin deshalb so bedeutungsvoll, weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurteilung der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der gesunde, unterliegt denselben »ewigen ehernen Gesetzen«, wie die ganze übrige organische Welt.

      Physiologie der Säugetiere. Unter den zahlreichen Tierklassen, welche die neuere Zoologie unterscheidet, nehmen die Säugetiere nicht allein in morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung eine ganz besondere Stellung ein. Da nun auch der Mensch seinem ganzen Körperbau nach zur Klasse der Säugetiere gehört, muß er auch den besonderen Charakter seiner Lebenstätigkeiten mit den übrigen Säugetieren teilen. Der Blutkreislauf und die Atmung vollziehen sich beim Menschen genau nach denselben Gesetzen und in derselben eigentümlichen Form, welche auch allen anderen Säugetieren zukommt; sie ist bedingt durch


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