Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe
in ferne Länder; habe es ihn nicht mehr rasten und ruhen lassen, und sei er auf einmal spurlos verschwunden gewesen, ohne über sein Verbleiben etwas zu hinterlassen…«
»Und hat ihn Gott davor behütet, uns vor die Augen zu kommen«, fiel mein Oheim mit abgewandtem Gesicht ein.
»Schrieb ich dem Andreas am andern Morgen das Geschehene, denn er wußte noch nichts davon; es war ein feiges Volk, so ihm auf vier Meilen Weges nichts vermeldet hatte.«
Der Kranke im Bett stöhnte, als ob ihm das Herz zerbreche, während ich schwindelnd und wortlos dasaß…
»Verkauften wir unsere Liegenschaften und brachten wir die Luise und dich, Franz, ihr kleines Kind, hierher in den grünen Wald, allwo uns des Fürsten Durchlaucht einen Unterschlupf gab. Die Luise war immer still vor sich hin und ward immer stiller; sie sang nicht mehr ihre alten Liederverse und saß am liebsten in der Sonne und hielt ihre armen magern Finger gegen das Sonnenlicht. Dann lachte sie wohl und sagte:
›Noch immer – noch immer – wie es rinnt, rinnt!‹
Und eines Morgens – – – Ja, wie war’s denn, was ich einmal im Franzosenland von einem den Offizieren vorlesen hörte, als ich Wache vor dem Zelt stand. Ich glaube, Herr Goethe oder so nannten sie ihn, der es las (er zog mit des Herzogs Durchlaucht), und es handelte von einer dänischen Prinzessin, die wahnsinnig wurde, weil ihr Liebster sich wahnsinnig gestellt hatte …«
»Bleib bei der Stange, Burchhard«, rief mein Oheim plötzlich, sich aufrichtend, – »eines Morgens lag sie am Rande des Hungerteiches ertrunken im Wasser!«
Laut aufschreiend stürzte ich auf die Kniee und verbarg den Kopf in dem Kissen des alten sterbenden Mannes. Dieser saß jetzt auf den Ellenbogen gelehnt aufrecht, unterstützt von der weinenden Waldgrete, seine Augen funkelten; er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte leise:
»Er war jünger als Burchhard und ich; er wird leben – – – such ihn!«
Damit sank er erschöpft zurück, während ich betäubt liegenblieb.
Endlich legte mir der alte Burchhard die Hand auf die Schulter und führte mich hinaus.
»Ich will dir ein Wahrzeichen geben«, sagte er, als wir unter den grünen Bäumen waren, die auf jene Tragödie ebenso grün und lustig herabgesehen hatten. Wieder einmal folgte ich dem Laufe des Baches durch die freudige Wildnis. Mit welchen Gefühlen?! – Jetzt wußte ich, woher der tiefinnere Zug nach dem stillen Waldteiche in mir kam! Da lag die klare Fläche in der Abendglut vor uns, der leise Wind flüsterte in den Binsen, schlug die gelben Irisglocken aneinander und schaukelte die auf ihren breiten, saftigen Blättern schwimmenden Wasserrosen; das war alles so friedlich, so heimlich, so schön, und doch – welch unnennbares Grauen gewährte mir der Anblick!
»Als ich sie da fand«, sagte Burchhard, »hielt sie die eine Hand fest zu, und das Gold eines Ringes schimmerte durch die starren Finger. Komm mit!«
Der Alte führte mich seitab in den Wald, wo ein Stein, mit einem Kreuz bezeichnet, im Moose lag. Er knieete nieder, hob ihn weg und wühlte eine Zeitlang in der Erde.
»Da!« rief er plötzlich und schleuderte den kleinen goldenen Reif, als habe er eine Schlange berührt, ins Gras. Es war auch eine Schlange, die einen wappengeschmückten Rubin mit Kopf und Schweifende umschlang. Du wirst ihn in diesem Kästchen finden, Johannes!
An jenem Abend noch starb mein Oheim, und ich führte seine Leiche, wie du weißt, Johannes, nach Ulfelden. Ich weiß nicht, der Tod des alten Mannes erschien mir als gleichgültig im Vergleich mit dem Schrecklichen, welches mir enthüllt war. – Es war übrigens ein seltsamer Zug; wir hatten den schwarzen Sarg auf einen niedern Wagen, mit Zweigen und Waldblumen geschmückt, gestellt; die Holzhauer mit ihren Äxten, die umwohnenden Köhler mit ihren Schürstangen gaben ihm das Geleit. Dicht hinter dem Sarg schritt der alte Burchhard, die Büchse und das Waldhorn über der Schulter, die Hunde um ihn her. Von Zeit zu Zeit blies er eine lustige schmetternde Jägerweise, die er dann ergreifend und seltsam in einen Choral übergehen ließ. Unter den letzten Bäumen hielt er an, die Holzhauer und Köhler um ihn her; noch einmal blies er einen fröhlichen Jagdgruß, dann drückte er mir schweigend die Hand und sagte dumpf: »Lebe wohl, Franz Ralff«, und schritt langsam in den Wald zurück, und immer ferner hörte ich die Töne seines Hornes verklingen. Der Ohm wurde auf dem Ulfeldener Kirchhof, dicht neben seiner Schwester, meiner Mutter, begraben. Den alten Burchhard habe ich nicht wieder gesehen; ich hielt’s nun gar nicht mehr aus in der engen Welt um mich her, ich ging nach Italien. Burchhard aber zog nach dem Harz, wo Verwandte von ihm lebten und wo er auch bald gestorben ist.
Das, Johannes, ist der Teil meiner Geschichte, den selbst du, mein Freund, nicht kanntest. Ich überlasse dir nun, welche Anwendung du davon einst für mein Kind wirst machen können; von jenem Mann habe ich nie eine Spur entdecken können. Versunken und vergessen! Das Schloß Seeburg ist jetzt eine Fabrik!«
Da liegt das alte vergilbte Heft vor mir, aus welchem ich diese Bogen der Chronik der Sperlingsgasse abgeschrieben habe. Lange saß ich noch an jenem Tage neben meinem Freunde, er sprach viel von seinem Tode und lächelte oft trübe vor sich hin. Während seiner Erzählung hatte er mit der Reißkohle die Umrisse eines Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen. »Das Bild male ich dir erst noch, Johannes«, sagte er. Ich kannte die milden Züge zu wohl, um sie nicht selbst in diesen leichten Linien zu erkennen.
Und so geschah es! Je heller und sonniger die Farben auf der Leinwand aufblühten, je lieblicher der Lockenkopf Mariens aus dem Grau auftauchte, desto bleicher wurden die Wangen meines Freundes, und eines Morgens – war er ihr hinabgefolgt und hatte sein kleines Kind und seinen Freund allein zurückgelassen.
Have, pia anima!
Am 24. Dezember.
Weihnachten! – Welch ein prächtiges Wort! – Immer höher türmt sich der Schnee in den Straßen; immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen; immer schwerer tauen am Morgen die gefrorenen Fensterscheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen tun sie es gar nicht mehr. – Hinter den meisten Fenstern lugen erwartungsvolle Kindergesichter hervor; da und dort liegt auf der weißen Decke des Pflasters ein verlorner Tannenzweig. Es wird viel Goldschaum verkauft, und bedeckte Platten von Eisenblech, die vorbeigetragen werden, verbreiten einen wundervollen Duft.
»Was ist ein echter Hamburger Seelöwe?« fragte Strobel, der bei mir eintrat und beim Abnehmen des Hutes ein Miniaturschneegestöber hervorbrachte.
»Ein Hamburger Seelöwe?« fragte ich verwundert. »Doch nicht etwa ein Mitglied des Rats der Oberalten?«
»Beinahe!« lachte der Zeichner. »Ein Hamburger Seelöwe ist eine Hasenpfote, auf welche oben ein menschenähnliches Gesicht geleimt ist. Ein solches Individuum versteht an einem Tischrande gar anmutige Bewegungen zu machen. Sehen Sie hier!«
Dabei zog er den Gegenstand unsres Gesprächs hervor, hing ihn an meinen Schreibtisch und brachte ihn durch einen Stoß wie eine Art Pendel in Bewegung.
»Ist das nicht eine wundervolle Erfindung?«
»Prächtig«, sagte ich, »in meiner Jugend brachte man aber denselben Effekt durch den abgenagten Brustknochen eines Gänsebratens, in welchen man eine Gabel steckte, hervor; aber die Kultur muß ja fortschreiten.«
»Ja, die Kultur schreitet fort!« seufzte der Zeichner. »Sogar die einfachen Tannen machen allmählich diesen Pyramiden von bunten Papierschnitzeln Platz. Papier, Papier überall! Aber was ich sagen wollte: wäre es nicht eigentlich die Pflicht zweier Mitarbeiter der ›Welken Blätter‹, jetzt auf die Weihnachtswandrung zu gehen?«
»Auch ich wollte Sie eben dazu auffordern«, sagte ich.
»Vorwärts!« rief Strobel und stülpte seinen Filz wieder auf, während ich meinen Mantel und roten, baumwollenen Regenschirm hervorsuchte.
Wir gingen. Den Hamburger Seelöwen ließen wir ruhig am Tisch fortbaumeln, nachdem ihm Strobel noch einen letzten Stoß gegeben hatte. Zur Weihnachtszeit habe ich gern ein solches Spielzeug in der Nähe, erfreute sich doch auch der alt und grau gewordene Jean Paul zu solcher Zeit gern an dem Farbenduft