Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
vorgerückt, nun einen eigenen Haushalt zu führen und eine Frau zu haben wünsche, überhaupt er kein Hindernis sehe zu heiraten, da er und das Mädchen einverstanden seien. Hierauf setzte er eine lange Denkschrift auf, in welcher er durch philosophische und rechtliche Gründe seine Sache verteidigte, mit großer Logik vom naturrechtlichen Standpunkt aus in die verwickelteren Verhältnisse unseres Land- und Familienrechtes überging und alle Konsequenzen in Aussicht stellte, welche er zu benutzen oder hervorzurufen wissen werde. Alles war in den kunstreichsten und ernsthaftesten Phrasen abgefaßt, und er erschien mit der Schrift und las dieselbe nach verlangter Erlaubnis mit seinem Silberstimmchen vor. Der Vater und die Söhne, welche letztere durch sein rücksichtsloses Benehmen nun auch gegen ihn eingenommen waren, glaubten nun ihre Sache gewonnen und entschieden, da sie, besonders wenn sie das immer noch zierliche Miniaturgesichtchen des Philosophen ansahen, einer so spaßhaften Wendung unmöglich eine ernste Folge zuschreiben mochten. Aber sie täuschten sich sehr. Sie warfen ihn zwar aus dem Hause, wobei sie auf das Schwesterchen keine große Rücksicht nahmen, allein der seltsame Werber verklagte sie sogleich und begann einen Prozeß um sein Recht, den er mit solcher Konsequenz und Energie durchführte, daß der Oheim entrüstet und aufgeregt schon auf halbem Wege erklärte, das Kind könne laufen, wohin es wolle. Noch glaubte man, das junge Mädchen, das man immer noch als Kind anzusehen gewohnt war, würde jetzt wenigstens noch eine Zeit bleiben, bis es im Frieden gehen könne, und man konnte seinen Abfall von der Familie nicht begreifen und schrieb denselben einem störrischen und mangelhaften Herzen zu; aber es kümmerte sich nicht darum, sah nicht Vater noch Schwestern und Brüder und kaum das Grab seiner Mutter an und zog ohne Aussteuer, ohne Sang und Klang mit dem Philosophen aus dem Dorfe. Mit Verwunderung sah ich, wie Logik und Leidenschaft im Bunde in noch so jungen Köpfchen wohl soviel Bewegung verursachen können als Erfahrung und gereifter Wille der Alten. Denn das Philosöphchen hatte sich vorgenommen, streng nach seiner Vernunft und seinem Naturrechte zu handeln, und auch seine Handlungen ganz in diesem Sinne durchgeführt, so daß er sich unter der ganzen Lehrerschaft ein großes Ansehen erwarb, als ein Besieger des Vorurteils, während das Mädchen durch seine unerwartete und rücksichtslose Leidenschaft, für die es auf der ganzen Welt keine Richtschnur mehr gab als der Wille des Geliebten, weitherum ein wunderliches Aufsehen erregte.
So war in kurzer Zeit die Gestalt des oheimlichen Hauses verändert und durch die verschiedenen Vorgänge alles älter und ernster geworden. Von der traurigen Schaubühne ihres Krankenbettes sah die arme Anna alle diese Veränderungen, aber schon mehr als äußerlich getrennt von den Ereignissen. Sie hatte eine geraume Zeit im gleichen Zustande verharrt, und alle hofften, daß sie am Ende wieder aufleben würde. Aber da man es am wenigsten dachte, erschien eines Morgens im Herbste der Schulmeister schwarz gekleidet bei dem Oheim, welcher selbst noch schwarz ging, und verkündete ihren Tod.
In einem Augenblicke war nicht nur das Haus von Klagen erfüllt, sondern auch die benachbarte Mühle, und die Vorübergehenden verbreiteten das Leid im ganzen Dorfe. Seit bald einem Jahre war der Gedanke an Annas Tod großgezogen worden, und die Leute schienen sich ein rechtes Fest der Klage und des Bedaurens aufgespart zu haben; denn für eine allgemeine Totentrauer war dieser anmutige schuldlose und geehrte Gegenstand geeigneter als die eigenen Verluste.
Ich hielt mich ganz still im Hintergrunde; denn wenn ich auch bei freudigen Anlässen laut wurde und unwillkürlich eine anmaßende Rolle spielte, so wußte ich dagegen, wo es traurig herging, mich gar nicht vorzudrängen und geriet immer in die Verlegenheit, für teilnahmlos und verhärtet angesehen zu werden, und dies um so mehr, als mir von jeher nur die aus Schuld oder Unrecht entstandenen Mißstimmungen, die innere Berührung der Menschen, nie aber das unmittelbare Unglück oder der Tod Tränen zu entlocken vermochten.
Jetzt aber war ich erstaunt über den frühen Tod und noch mehr darüber, daß dies arme tote Mädchen meine Geliebte war. Ich versank in tiefes Nachdenken darüber, ohne Schrecken oder heftigen Schmerz zu empfinden, obgleich ich das Ereignis mit meinen Gedanken nach allen Seiten durchfühlte. Nicht einmal die Erinnerung an Judith verursachte mir Unruhe. Nachdem der Schulmeister einige Anordnungen getroffen, wurde ich endlich aus meiner Verborgenheit hervorgezogen, indem er mich aufforderte, nunmehr mit ihm zurückzugehen und einige Zeit bei ihm zu wohnen. Wir machten uns auf den Weg, indessen die übrigen Verwandten, besonders die noch im Hause lebende Tochter und die junge Müllerin, versprachen, sogleich nachzukommen.
Auf dem Wege faßte der Schulmeister sein Leid zusammen und gab ihm durch die nochmalige Schilderung der letzten Nacht und des Sterbens, das gegen Morgen eintraf, Worte. Ich hörte alles aufmerksam und schweigend an; die Nacht war beängstigend und leidenvoll gewesen, der Tod selbst aber fast unmerklich und sanft.
Meine Mutter und die alte Katherine hatten die Leiche schon geschmückt und in Annas Kämmerchen gelegt. Da lag sie, nach des Schulmeisters Willen, auf dem schönen Blumenteppich, den sie einst für ihren Vater gestickt und man jetzt über ihr schmales Bettchen gebreitet hatte; denn nach solchem Dienste gedachte der gute Mann diese Decke immer zunächst um sich zu haben, solange er noch lebte. Über ihr an der Wand hatte Katherine, deren Haar nun schon ganz ergraut war und die aufs heftigste und zärtlichste lamentierte, das Bild hingehängt, das ich einst von Anna gemacht, und gegenüber sah man immer noch die Landschaft mit der Heidenstube, welche ich vor Jahren auf die weiße Mauer gemalt. Die beiden Flügeltüren von Annas Schrank standen geöffnet, und ihr unschuldiges Eigentum trat zutage und verlieh der stillen Totenkammer einen wohltuenden Schein von Leben. Auch gesellte sich der Schulmeister zu den beiden Frauen, die vor dem Schranke sich aufhielten, und half ihnen die zierlichsten und erinnerungsreichsten Sächelchen, deren die Selige von früher Kindheit an gesammelt, hervorziehen und beschauen. Dies gewährte ihm eine lindernde Zerstreuung, welche ihn doch nicht von dem Gegenstande seines Schmerzes abzog. Manches holte er sogar aus seinem eigenen Verwahrsam herbei, wie z.B. ein Bündelchen Briefe, welche das Kind aus Welschland an ihn geschrieben; diese legte er, nebst den Antworten, die er nun im Schranke vorfand, auf Annas kleinen Tisch und ebenso noch andere Sachen, ihre Lieblingsbücher, angefangene und vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene silberne Brautkrone. Einiges wurde sogar ihr zur Seite auf den Teppich gelegt, so daß hier unbewußt und gegen den sonstigen Gebrauch von diesen einfachen Leuten eine Sitte alter Völker geübt wurde. Dabei sprachen sie immer so miteinander, als ob die Tote es noch hören könnte, und keines mochte sich gern aus der Kammer entfernen.
Indessen verweilte ich ruhig bei der Leiche und beschauete sie mit unverwandten Blicken; aber ich ward durch das unmittelbare Anschauen des Todes nicht klüger aus dem Geheimnis desselben oder vielmehr nicht aufgeregter als vorhin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich sie zuletzt gesehen, nur daß die Augen geschlossen waren und das blütenweiße Gesicht auf den Wangen wunderbarerweise mit einem leisen rosigen Hauche überflogen, wie vom Widerschein eines fernen, fernen Morgen- oder Abendrotes. Ihr Haar glänzte frisch und golden, und ihre weißen Händchen lagen gefaltet auf dem weißen Kleide mit einer weißen Rose. Ich sah alles wohl und empfand beinahe eine Art glücklichen Stolzes, in einer so traurigen Lage zu sein und eine so poetisch schöne tote Jugendgeliebte vor mir zu sehen. Erst als mir die alte Katherine jene Stickerei in die Hände gab, welche Anna zu einer Mappe für mich bestimmt und mühsam vollendet hatte, mit dem Bericht, daß die Leidende während der verwichenen Nacht plötzlich einmal gesagt, man solle nicht vergessen, mir das Geschenk zu übergeben, sobald ich wiederkomme, erst jetzt fiel es mir ein, daß wir unsterblich sind, und fühlte mich durch ein unauflösliches Band mit Anna verbunden.
Auch meine Mutter und der Schulmeister schienen stillschweigend mir ein nahes Recht auf die Verstorbene zuzugestehen, als man verabredete, daß fortwährend jemand bei der Toten weilen und ich die erste Wache halten sollte, damit die übrigen sich in ihrer Erschöpfung einstweilen zurückziehen und etwas erholen konnten. Ohne jene Voraussetzung hätten sie mir eine solche zugleich zarte und ernste Zumutung wohl nicht gestellt.
Ich blieb aber nicht lange allein mit der Anna, da bald die Basen aus dem Dorfe kamen und nach ihnen viele andere Mädchen und Frauen, denen ein so rührendes Ereignis und eine so berühmte Leiche wichtig genug waren, die drängendste Arbeit liegenzulassen und dem ehrfurchtsvollen Dienste des Menschengeschickes, des Todes, nachzugehen. Die Kammer füllte sich mit Frauensleuten, welche erst einer feierlich flüsternden Unterhaltung pflagen, dann aber in ein ziemliches Geplauder gerieten. Sie standen dichtgedrängt um die stille Anna herum, die jungen mit ehrbar aufeinandergelegten