Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
der Schiffswand, die nun eine Speckseite war, urplötzlich einen dicken Span herunter und trat mit demselben feierlich in die Kajüte, um einen Imbiß zu halten.
Heinrich ritt nun auf seinem Goldfuchs in das Dorf ein, darin sein Oheim wohnte; es sah ganz fremd aus, die Häuser waren neu gebaut und alle Kamine rauchten, indessen die Bewohner sämtlich hinter den hellen Fenstern zu erblicken waren, wie sie eifrig um den Tisch herum saßen und aßen, keine Seele sich aber auf der Straße sehen ließ und ihn also auch niemand bemerkte. Dessen war er aber höchlich froh; denn er entdeckte erst jetzt, daß er auf seinem leuchtenden Pferde noch die alten abgeschabten und anbrüchigen Kleider anhatte. Er bestrebte sich, desnahen auch, ungesehen hinter das Haus des Oheims zu gelangen; aber wie wunderte er sich, als dieses über und über mit Efeu bewachsen und außerdem noch ganz von den alten wuchtigen Nußbäumen überhangen war, so daß kein Stein und kein Ziegel zu sehen war und nur hie und da ein Stückchen Fensterscheibe durch das dichte Grün blinkte. Er sah wohl, daß sich Leute hinter denselben bewegten, aber er konnte niemanden erkennen. Der Garten war mit einer Wildnis von wuchernden Feldblumen bedeckt, aus denen die alten verwilderten Gartenstauden baumhoch emporragten, und Schwärme wild gewordener Bienen brausten auf dieser Blumenwildnis umher. Im Bienenhause aber lag sein alter Liebesbrief, den der Wind einst dahin getragen, vergilbt und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die Jahre her jemand gefunden, obgleich er offen dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten, da riß ihn jemand aus seiner Hand, und als er sich umsah, huschte Judith damit lachend um die Ecke und küßte Heinrich aus der Entfernung durch die Luft, daß er den Kuß auf seinem Munde fühlte; aber der Kuß verwandelte sich sogleich in ein Apfelküchlein, das er begierig aß, da er im Schlafe mächtigen Hunger empfand. Dies sah er auch sogleich ein und überlegte, daß er ja träume, daß aber der Apfelkuchen von jenen Apfeln herkomme, welche er einst küssend mit Judith zusammen gegessen. Aber das Stückchen Kuchen machte ihn erst recht heißhungrig, und er gedachte, daß es nun Zeit sei, in das Haus zu gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit sein würde. Er packte also einen schweren Mantelsack aus, welcher sich unversehens auf seinem Pferde befand, nachdem er dasselbe an einen Baum gebunden, und aus seinem Mantelsack rollten die schönsten Kleider hervor und ein feines weißes Hemd mit gestickter Brust. Wie er dieses auseinanderfaltete, wurden zwei daraus, aus den zweien vier, aus den vieren acht, kurz, eine Menge der feinsten Leitwäsche breitete sich aus, welche wieder in den Mantelsack zu packen Heinrich sich abmühte, aber vergeblich; immer wurden es mehr Hemden und bedeckten den Boden umher, und Heinrich empfand die größte Angst, über diesem sonderbaren Geschäft von seinen Verwandten überrascht zu werden. Endlich ergriff er in der Verzweiflung eines, um es anzuziehen, und stellte sich schamhaft hinter einen Nußbaum; aber man sah vom Hause aus an diese Stelle, und er schlich sich beklemmt hinter einen andern, und so immer fort von einem Baume zum andern, bis er, dicht an das Haus gelehnt und sich in den Efeu hineindrückend, in der größten Verwirrung und Eile den Anzug wechselte, die schönen Kleider anzog und doch fast nicht fertig damit werden konnte, und als er es endlich war, befand er sich wieder in der größten Not, wohin er das traurige Bündel der alten Kleider bergen möge. Wohin er es auch trug, immer fiel ihm ein Stück auf die Erde; zuletzt gelang es mit saurer Mühe, das Zeug in den Bach zu werfen, wo es aber durchaus nicht talab schwimmen wollte, sondern sich immer an selber Stelle herumdrehte ganz gemächlich. Er ergriff eine verwitterte Bohnenstange, die ihm in den Händen zerbrach, und quälte sich ab, die schlechten Lumpen in die Strömung hineinzustoßen; aber die morsche Stange brach und brach immer wieder und zersplitterte bis auf das letzte Stümpfchen. Da berührte ein süßer duftiger Hauch seine Wangen, den er so recht durch allen Traum hindurch empfand, und Anna stand vor ihm und führte ihn freundlich in das grüne Haus hinein. Er stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der Oheim, die Tante, die Basen und die Vettern sämtlich versammelt waren und ihn herzlich begrüßten. Er sah sich aufatmend um; die alte Wohnung war ganz neu und sonntäglich aufgeputzt, manches neue, ihm noch unbekannte Möbel, wie es im Laufe der Jahre wohl in ein Haus kommt, stand da, und es war so sonnenhell in dem Gemach, daß Heinrich nicht begriff, wie durch den dicken Efeu all das Licht herkomme. Der Oheim und die Tante waren in ihren besten Jahren, die Bäschen und die Vettern lustig und blühender als je, der Schulmeister ebenfalls ein sehr schöner Mann und aufgeräumt wie ein Jüngling, und Anna war als Mädchen von vierzehn Jahren in jenem rotgeblümten Kleide und mit der lieblichen Halskrause. Was aber sehr sonderbar war alle, Anna nicht ausgenommen, trugen lange feine kölnische Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Tabak und Heinrich ebenfalls. Dabei standen sie, die Verstorbenen und die noch Lebendigen, keinen Augenblick still, sondern gingen mit freundlichen frohen Mienen unablässig die Stube auf und nieder, hin und her, und dazwischen niedrig am Boden die zahlreichen Jagdhunde, das Reh, der Marder, zahme Falken und Tauben in friedlicher Eintracht, nur daß die Tiere den entgegengesetzten Strich mit den Menschen gingen und so ein wunderbares Weben durcheinanderging Der große Nußbaumtisch war mit dem schönsten weißen Damasttuche gedeckt und mit einer duftenden vollaufgerüsteten Mahlzeit besetzt, an welche aber niemand rührte. Heinrich konnte kaum erwarten, bis man sich zu Tische setze, so wässerte ihm der Mund, und unterdessen sagte er zum Oheim »Ei, Ihr scheint es Euch da recht wohl sein zu lassen!« – »Versteht sich!« sagte der, und alle wiederholten »Versteht sich!« mit angenehm klingender Stimme.
Plötzlich befahl der Oheim, daß man zu Tische sitze, und alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden, je drei und drei, wie die Soldaten die Gewehre. Darauf schienen sie unversehens wieder zu vergessen, daß sie sich eigentlich zu Tisch setzen wollten, zum großen Verdruß Heinrichs; denn sie gingen nun ohne die Pfeifen wieder umher und fingen allmählich an zu singen, und Heinrich sang mit:
»Wir träumen, wir träumen,
Wir träumen, träumen, träumen,
Wir säumen, träumen, säumen,
Wir eilen und wir weilen,
Wir weilen und wir eilen,
Sind da und sind doch dort,
Wir gehen bleibend fort,
Wem konveniert es nicht?
Wie schön ist dies Gedicht! Hallo, hallo!
Es lebe, was auf Erden stolziert in grüner Tracht,
Die Wälder und die Felder, die Jäger und die Jagd!«
Diese merkwürdige Traumkomposition sangen die Weiber und Männer mit wundervoller Harmonie und Lust, und das Hallo stimmte der Oheim mit gewaltiger Stimme an, so daß die ganze Schar mit verstärktem Gesange darein tönte und rauschte und zugleich, blässer und blässer werdend, sich in einen wirren Nebel auflöste, während Heinrich bitterlich weinte und schluchzte und die Tränen stromweis flossen. Er erwachte in Tränen gebadet, und sein schlechtes Lager, welches seine jetzigen Wirtsleute, weil er nicht bezahlen konnte, lange nicht aufgefrischt, war vor. Tränen benetzt. Als er diese mit Mühe getrocknet, war das erste, dessen er sich erinnerte, der wohlbesetzte Tisch, der ihm so schnöde entschwunden, und erst dann fiel ihm nach und nach der ganze Traum bei, und er schlief voll Sehnsucht hurtig wieder ein, um nur schnell wieder in das gelobte Land zu kommen und die Heimreise zu vollenden.
Er fand sich in einem großen Walde wieder und ging auf einem wunderlichen schmalen Brettersteig, welcher sich hoch durch die Äste und Baumkronen wand, eine Art endlosen hängenden Brückenbaues, indessen der bequeme Boden unten unbenutzt blieb. Aber es war schön, hinabzuschauen auf denselben, da er ganz aus grünem Moose bestand, welches in tiefer Dunkelheit lag. Auf dem Moose wuchsen Tausende von einzelnen sternförmigen Blumen auf schwankem Stengel, die sich immer dem oben gehenden Beschauer zuwandten; im Schatten jeder Blume stand ein kleines Bergmännchen, welches mittelst eines in einem goldenen Laternchen eingefaßten Karfunkels die nächste Blume beleuchtete, daß sie aus der Tiefe glänzte wie ein blauer oder roter Stern, und indem sich die Blumengestirne langsamer oder schneller drehten, gingen die Männchen mit ihren Laternchen um sie herum und lenkten sorgfältig den Lichtstrahl auf den Kelch. Jede Blume hatte ihr eigenes Männchen, und das kreisende Leuchten in der dunklen Tiefe sah sich von dem hohen Bretterwege wie ein unterirdischer Sternhimmel an, nur daß er grün war und die Sterne in allen Farben strahlten. Heinrich ging entzückt auf seiner Hängebrücke weiter und schlug sich tapfer durch die Buchen- und Eichenkronen, manchmal kam er in eine Föhrengruppe hinein, welche