Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
sicher erinnere ich mich«, sagte er errötend, »aber ich würde Sie doch nicht wiedererkannt haben; denn Sie sind soviel größer geworden!«
Bei diesen Worten errötete sie auch ein weniges, aber sehr unverfänglich und nur insofern, als sie fühlte, welch einen rosigen Glanz die Erwähnung der märzlich flimmernden und schimmernden Mädchenflegeljahre über eine Großgewordene verbreitet, die man lange nicht gesehen. Dann sagte sie aber mit herzlicher Bekümmernis »Ach Gott! Sie müssen also nun auf so traurige Weise wieder in Ihre Heimat kehren?«
»O das hat gar nichts zu sagen«, erwiderte Heinrich lachend, »ich bin bereits auf dem Wege wieder ganz munter geworden und habe es nun gut vor, wenn ich nur erst dort bin!«
»Kommen Sie nun jedenfalls mit mir«, sagte das Fräulein, »mein Papa ist den ganzen Tag weggewesen, und bis er nach Hause kommt, will ich es über mich nehmen und Ihnen ein vorläufiges Unterkommen anbieten in meinem Gartenhause; ich bin versichert, daß er sich wohl Ihrer erinnert und Sie nicht fortlassen wird diese Nacht! Kommen Sie nur, gleich unter diesen Bäumen treibe ich so den ganzen Sommer und Herbst mein Wesen, und Ihr, Küster, folgt uns als dienstbare Begleitung, zur Strafe, daß Ihr diesen Herrn so ungastlich behandelt!«
Heinrich war zu schwach, als daß er sich hätte bedenken können, ob er der Einladung Folge leisten wolle oder nicht; auch machte dieselbe einen so herzlichen und unbefangenen Eindruck auf ihn, daß er der Schönen gern folgte und, so rasch er noch vermochte, neben ihr hinmarschierte, sich einzig nach einer Ruhestelle und etwas Wärme sehnend, indessen der Küster ganz verblüfft und mißtrauisch hinter dem Paare herging. Es hatte endlich ganz zu regnen aufgehört, der feste Boden unter den großen alten Bäumen war fast gänzlich trocken, und in das prächtige Dunkel, in dem sie jetzt gingen, leuchteten nur zwischen den Stämmen der feurige Abendstreif und im Hintergrunde die erhellten Fenster eines Park- oder Gartenhauses. In diesem befand sich ein kleiner Saal, der nur durch eine Glastür vom Parke getrennt war, und in dem Saale brannte ein helles Kaminfeuer; als sie eingetreten, rückte das Frauenzimmer einen Stuhl zum Feuer und forderte Heinrich auf, sich auszuruhen. Ohne Verzug setzte er sich und schämte sich noch eine Weile seines schlechten Aussehens; die junge Dame schien das zu bemerken und stellte sich voll Mitleid vor ihn hin, indem sie sagte »Sagen Sie doch, Herr – wie heißen Sie denn?«
»Heinrich Lee«, sagte er.
»Herr Lee, geht es denn Ihnen ganz schlecht? Ich habe keinen rechten Begriff davon; Sie sind doch am Ende nicht so arm, daß Sie auch nichts zu essen haben?«
Heinrich lächelte und sagte »Es hat nicht zum mindesten etwas zu bedeuten, wie ich Ihnen sage, aber im Augenblick ist es allerdings so!« Er erzählte ihr hierauf mit wenig Worten sein Abenteuer, worauf sie die Hände zusammenschlug und rief »Herr Gott! aber warum tun Sie denn das? Wie können Sie sich so der Not aussetzen?«
»Nun, mit Absicht hab ich es gerade nicht getan«, sagte er, »da es aber einmal so ist, so bin ich sogar sehr froh darüber; sehen Sie, man lernt an allem etwas und hat manchmal sogar die besten Früchte daran. Für Frauen sind dergleichen Übungen nicht notwendig, denn sie tun so immer, was sie nicht lassen können; für uns Männer aber sind immer so recht handgreifliche Exerzitien gut, denn was wir nicht sehen und fühlen, sind wir nie zu glauben geneigt oder halten es für unvernünftig und verächtlich.«
Das gute Mädchen hatte indessen ein kleines Tischchen herbeigeholt und vor ihn hingestellt, auf welchem einiges Essen stand. »Hier steht zum Glück«, rief sie, »noch fast mein ganzes Essen; ich ließ es mir hierher bringen, da ich heute allein war, und essen Sie wenigstens sogleich etwas, bis mein Papa zu Hause kommt und für Sie sorgt. Geht sogleich nach dem Hause, Küster, und holt eine Flasche Wein, sogleich, hört Ihr? Die Brigitte wird sie Euch geben! Trinken Sie lieber weißen Wein oder Rotwein, Herr Lee?«
»Roten«, sagte er.
»So sagt der Brigitte, sie solle Euch von Papas Wein geben!« rief sie dem Küster noch nach. Dann zog sie tüchtig an einer Klingelschnur, worauf ein ländlich gekleidetes feines Mädchen herbeigelaufen kam, welches des Gärtners Tochter war und den essenden Heinrich neugierig betrachtete; denn dieser hatte sich sehr andächtig über ein Stück kalten Rehbratens hergemacht, wunderte sich jedoch bald, daß er gar nicht soviel zu essen vermochte, als er zuerst gedacht, und er legte bald die zierlichen Eßwerkzeuge hin und vermochte jetzt erst recht nicht mehr zu essen, als er bemerkte, daß es wohl diejenigen des Fräuleins selbst waren, die man ihm im ersten Eifer vorgelegt hatte. Er fand sich in einer sonderbaren Lage und wünschte doch lieber wieder auf dem nächtlichen Wege zu sein, um frei und frank seinem Lande zuzuschreiben. Denn es schnürte ihm irgendeine Befangenheit das Herz zu, und es war ihm, als ob er besser getan hätte, alles darauf ankommen zu lassen und unter Gottes freiem Himmel zu bleiben. Er nahm die kleine silberne Gabel, welche fast noch eine Kindergabel war und schon viele Jahre gebraucht schien, noch einmal in die Hand und betrachtete sie, und als er sah, daß der Name »Dorothea« höchst sauber in kleiner gotischer Schrift darauf graviert war, legte er das Instrumentchen so schleunig wieder hin, als ob es ihn gestochen hätte, und es erwachte plötzlich ein heftiger Stolz in ihm, wenn er sich dachte, daß man nur im geringsten etwa meinen könnte, er hätte sich etwas zugute darauf getan, mit dem allerliebsten Leibbesteck dieses schönen und vornehmen Fräuleins zu essen, und zwar so wie gestohlen, durch die Gunst eines Versehens. Sie hieß also Dorothea, und die Gärtnerstochter nannte sie auch soeben mit diesem Namen, während sie selbst Apollönchen genannt wurde. Die beiden Mädchen hatten sich an einen großen viereckigen Tisch zurückgezogen, der in der Mitte des Saales stand, und sprachen dort mit halblauter Stimme miteinander, als ob sonst niemand zugegen wäre; denn es schien deutlich, daß Dorothea einstweilen das Ihrige getan glaubte und sich einer gemessenen Zurückhaltung ergab; aber in derselben war sie unbefangen und anmutig, daß Heinrich nur in um so größere Verlegenheit geriet und er, der eben noch kaum seine Glieder zusammenhalten konnte, alsogleich von der Opposition besessen ward, in welche ein unverdorbener junger Mensch solchen Erscheinungen gegenüber gerät, als müßte er sich seiner Haut wehren, wo niemand denkt, ihn in Unruhe zu versetzen. Doch ließ er sich nichts ansehen, und da der Wein inzwischen gekommen war und Apollönchen ihm eingeschenkt hatte, wobei sie ihn im Fluge und mit kritischen Äugelein musterte, trank er binnen kurzem ein großes Glas voll aus und sah nun dem Treiben der Frauenzimmer zu. Die Gärtnerstochter stand bei der Herrntochter, welche am Tische saß, und indem sie kurzweilig und vertraulich plauderten, half jene dieser in ihrer Hantierung und reichte ihr, was sie bedurfte. Der große Tisch war ganz mit Gegenständen bedeckt, worunter vorzüglich allerlei Gefäße und Gläser hervorragten, welche sämtlich mit Blumen angefüllt waren, die im Wasser standen. Meistens waren es Spätrosen, und die Sträuße, große und kleine, befanden sich im verschiedensten Zustande, so daß man sah, daß es die Ergebnisse vieler Tage waren und auch der älteste Strauß noch mit Liebe erhalten und gepflegt wurde, so hinfällig er auch aussah. Da Heinrich sah, daß die heutigen Blumen vom Kirchhofe sogleich in ein Glas gestellt worden, so vermutete er, daß alle Blumen von den Gräbern herrührten, und dachte sich, die Schöne müsse eine liebevolle Freundin und Pflegerin der Toten sein, was ihr um so mehr Reiz verlieh, als sie eine Gräfin und die draußen Liegenden sämtlich Bauern und Untertanen waren. Außerdem lagen auf dem Tische noch eine Menge späte Feldblümchen, verwelkt oder noch leidlich frisch, und wunderschöne purpurrote oder goldene Baumblätter, allerlei Prachtexemplare, wie sie jetzt von den Bäumen fielen, und noch andere solche Herbstputzsachen aus Wald und Garten, welche über den ganzen Tisch gestreut waren, so daß die Dame für die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigte, fortwährend Raum schaffen und das bunte Blätterwerk mit liebenswürdigem Unwillen wegstreifen mußte. Vor ihr lag eine große offene Mappe, welche ganz mit Bildern und Zeichnungen gefüllt schien, welche auf stattliche Bogen grauen Papieres zu heften ihre Arbeit war, daß sie geschützt und mit einem anständigen Rande versehen wurden. Heinrich sah sie von seinem Sitze aus verkehrt; doch erkannte er, daß es landschaftliche Studien waren, indessen sie ihn wenig rührten, da die Zeit dieser Dinge schon wie ein Traum hinter ihm zu liegen schien; vielmehr empfand er einen Widerwillen, hier auf dergleichen zu stoßen, was ihm soviel Täuschung und Leidwesen bereitet hatte.
Apollönchen schnitt, nach Dorotheas Anweisung, das graue Papier zurecht, je nach dem Maße des Studienblattes, mit einer niedlichen Schere, und beide benahmen sich dabei,