Der Spürsinn des kleinen Doktors. Georges Simenon
s Simenon
Der Spürsinn des Kleinen Doktors
Vier Kriminalfälle
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker
Kampa
Der Spürsinn des kleinen Doktors
I Die Konsultation ohne Patient
»Hallo! Ist der Doktor selber am Apparat? … Hallo! Trennen Sie nicht …«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verängstigt. Der kleine Doktor dagegen, wie alle ihn nannten, kam gerade von der Visite zurück und schnupperte den köstlichen Duft eines Hammelragouts, das in der Küche brutzelte. Draußen war es brütend heiß. Drinnen hatte man die Jalousien heruntergelassen, und die Kühle war erquickend wie ein Bad.
»Hören Sie, Doktor … Ich rufe aus der Maison-Basse an. Sie müssen sofort kommen.«
»Die junge Frau?«, fragte der kleine Doktor.
»Kommen Sie schnell. Ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr? Sie müssen sofort kommen.«
»Muss ich …«
Er wollte fragen, ob er seine Tasche oder spezielle Medikamente mitbringen solle, aber man hatte schon eingehängt. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Uhr im Esszimmer; es war nur ein vager Blick, wie bei den meisten Menschen, wenn sie gerade telefonieren.
Nun ja … Er steckte sich eine Zigarette an und sagte durch die halb offen stehende Küchentür, er werde erst in einer guten halben Stunde zurück sein. Sein Zweisitzer stand draußen in der prallen Sonne, und die Polster glühten.
Als er dann aus dem Dorf heraus und auf der schattenlosen Straße, zu deren beiden Seiten sich Gräben entlangzogen, Richtung Moor fuhr, runzelte der kleine Doktor die Stirn und wäre fast, so sehr war er in Gedanken versunken, mit einem Heuwagen zusammengestoßen.
Er ahnte nicht, dass er einen besonders bedeutsamen Augenblick erlebte, noch dass das, was ihm durch den Kopf ging, ernste Folgen haben würde, und erst recht nicht, dass diese Ereignisse eine neue Leidenschaft in ihm wecken würden und er eines Tages auf einem ganz anderen Gebiet als dem der Medizin berühmt werden sollte.
»Das ist unmöglich … Die Uhr war nicht stehengeblieben.«
Er sah das graugrüne Zifferblatt im Esszimmer vor sich, die weit auseinanderstehenden Zeiger, es war fünf Minuten vor halb eins. Auf seiner Armbanduhr war es halb eins.
Aber die Maison-Basse, hinten im Moor, unweit der Küste, war mit dem Telefonnetz von Esnandes verbunden, dem Dorf, das der Arzt bald erreichen würde, und das Postamt in Esnandes war, worüber in der Gegend reichlich geklagt wurde, von zwölf bis zwei Uhr geschlossen.
Fast wäre er wieder umgekehrt, dieser Anruf war sicherlich ein übler Scherz. Aber die Straße war nicht mehr breit genug zum Wenden, und so zuckte er mit den Schultern, fuhr durch Esnandes und bog dann links in einen holprigen Weg ein.
Wie war noch gleich der Name des Mannes gewesen? Drouin. Jean oder Jules Drouin. Es musste jetzt etwas über sechs Monate her sein, dass er die Maison-Basse gemietet hatte. Ein Haus, das seit Jahren leer stand, weil es zu weit weg vom Dorf war, mitten im Moor, und das man im Winter nur über Stege verlassen konnte. Ein langes, niedriges, einstöckiges weiß gekalktes Haus mit einem roten Ziegeldach wie alle Dächer im Département Charente.
Am Ende des Winters hatten die Fensterläden offen gestanden. Dann war man einem Paar begegnet, das in dieser Gegend sofort auffallen musste: ein großer, schlaksiger junger Mann, den man immer in grauer Flanellhose, Sandalen und einem gelben Pullover mit kurzen Ärmeln sah, und eine junge, sehr hübsche Frau, die im Garten Sonnenbäder nahm.
»Künstler!«, sagten die Leute.
Die beiden arbeiteten nicht. Sie hatten kein Dienstmädchen. Der Mann machte die Besorgungen beim Dorfkrämer. Nie trug er einen Hut auf dem kastanienfarbenen Haar, dafür hatte er einen kurzen, struppigen Bart.
Eines Abends, es war schon drei oder vier Monate her, hatte der Doktor ihn zu seinem Erstaunen in seinem Wartezimmer sitzen sehen. Der Unbekannte hatte sich vorgestellt.
»Drouin … Ich bin der neue Mieter der Maison-Basse. Ach, ich bin kein sehr interessanter Patient, und meine Freundin ist es noch viel weniger. Ich leide nur an Schlaflosigkeit. Ich möchte, dass Sie mir ein wirksames, aber möglichst harmloses Mittel geben.«
Der Arzt hatte ihm Tabletten verschreiben wollen.
»Ich hätte lieber etwas, das man in Wasser auflöst. Ich habe einen ziemlich empfindlichen Hals, und das Schlucken von Tabletten fällt mir schwer.«
Er war sympathisch, dem Doktor zumindest. Hatte etwas Anziehendes. Vor allem war da sein Lächeln, ein mattes, trauriges Lächeln wie das mancher Tuberkulosekranker, die wissen, dass sie nicht zu retten sind.
»Ich danke Ihnen, Doktor. Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Das regeln wir bei einer anderen Gelegenheit.«
»Ich fürchte, es wird nicht viele Gelegenheiten geben.«
Der Arzt war dreißig Jahre alt. Er praktizierte erst seit zwei Jahren in der Gegend, und weil er so klein, freundlich und ein bisschen naiv war, vielleicht aber auch seines winzigen Autos wegen, das den ganzen Tag durch die Straßen ratterte, nannte man ihn liebevoll den kleinen Doktor.
Wie oft hatte er die Frau gesehen? Ein paarmal vielleicht, als er an der Maison-Basse auf dem Weg zum Hof von Renard vorbeigefahren war. Sie war gewiss sehr heiter und frei von Vorurteilen. Alles in allem hatte man den Eindruck, da erlebte ein sich leidenschaftlich liebendes Paar in völliger Abgeschiedenheit seine ›hohe Zeit‹.
Einmal allerdings … Der kleine Doktor hatte eine Panne im Moor. Sie kam vorbei.
»Nun, schläft Ihr Freund jetzt besser? Hat das Medikament gewirkt?«, hatte er sie gefragt.
Sie wirkte überrascht.
»Was meinen Sie damit?«
»Nichts … Ich wollte nur wissen, ob …«
Das Auto stand am Rand des Grabens, über den ein wackliger Holzsteg führte. Von den weißen Wänden des Hauses hob sich das grelle Rot der Geranien ab und das dezentere, sanftere Blau der Hortensien.
Die Läden waren geöffnet, die Fenster aber geschlossen. Niemand kam heraus, um den Doktor zu empfangen. Er klopfte an die Glastür, an der eine rotkarierte Gardine hing.
Vielleicht hatte der kleine Doktor auch da wieder das dunkle Verlangen umzukehren, aber schon griff seine Hand mechanisch nach der Eisenklinke. Die Tür gab nach. Angenehme Kühle kam aus der dunklen Küche, die zugleich das Esszimmer war.
»Hallo? Ist da jemand?«, rief er.
Die Situation war ihm peinlich. Er hatte das Gefühl, indiskret zu sein.
»Hallo? Monsieur Drouin?«
Er glaubte, im Nebenzimmer habe sich jemand bewegt, aber es war nur eine graue Katze, die an seinen Beinen entlangstrich und hinauslief. Das zweite Zimmer war das recht originell eingerichtete Schlafzimmer. Einige der Möbel hatte Drouin gewiss selbst gezimmert.
Eine große Couch diente als Bett, und dieses Bett war ungemacht. Man sah noch, dass jemand darin gelegen hatte. Was das Telefon betraf …
Er nahm den Hörer ab, drehte zweimal, dreimal die Kurbel, aber niemand meldete sich, was klipp und klar bewies, dass der Anruf, der ihn um fünf vor halb eins erreicht hatte, nicht von hier gekommen war.
Bis dahin hatte sich der kleine Doktor, der eigentlich Jean Dollent hieß, ausschließlich mit Medizin befasst. Nicht in seinen kühnsten Träumen wäre ihm eingefallen, dass er sich mit etwas anderem befassen könnte. Für einen ungewöhnlich guten Beobachter hielt er sich nicht und erst recht nicht für sonderlich scharfsinnig.
Im Augenblick war er verlegen. Und außerdem – so lächerlich es klingen mag – hatte er Durst. Einen solchen Durst, dass …
Es war nicht sehr fein. Sei’s drum. Da standen Regale mit Büchern,