Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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müßte er das. Aber wodurch kann man ihn dazu zwingen? Wodurch kann man ihn einschüchtern? Da kannst du sicher sein: der läßt sich nicht einschüchtern; ich habe ja das Geld von ihm angenommen. Ich selbst, ich selbst habe damit ihm gegenüber bekannt, daß mein ganzes Einschüchterungsmaterial nur zweitausend Rubel wert ist; ich habe mich selbst auf diese Summe abgeschätzt! Womit soll man ihm jetzt angst machen?«

      »Und ist denn Nellys Sache damit wirklich ganz verloren?« rief ich fast in Verzweiflung.

      »Durchaus nicht!« rief Masslobojew hitzig und zitterte ordentlich am ganzen Leib vor Erregung. »Nein, ich werde ihm das nicht so hingehen lassen! Ich werde eine neue Aktion beginnen, Wanja; ich habe mir das schon vorgenommen! Was macht das aus, daß ich die zweitausend Rubel angenommen habe? Gar nichts macht das aus! Wenn man es richtig auffaßt, so habe ich das Geld als Entschädigung für eine Beleidigung genommen, weil dieser Nichtswürdige mich übers Ohr gehauen, somit sich über mich lustig gemacht hatte. Übers Ohr hat er mich gehauen und obendrein sich über mich noch lustig gemacht! Nein, ich dulde das nicht, daß sich jemand über mich lustig macht… Jetzt, Wanja, werde ich die Sache so angreifen, daß ich mich an Nelly selbst heranmache. Auf Grund gewisser Beobachtungen bin ich fest davon überzeugt, daß es vollständig in ihrer Macht steht, diese Sache klarzustellen. Sie weiß alles, alles… Ihre Mutter hat es ihr selbst erzählt. Im Fieber und in ihrem Kummer konnte sie dazu kommen, es ihr zu erzählen. Und vielleicht werden wir dabei auch auf irgendwelche Dokumente stoßen«, fügte er ganz glückselig hinzu und rieb sich die Hände. »Verstehst du jetzt, Wanja, warum ich mich hier soviel umhertreibe? Erstens aus Freundschaft zu dir, das versteht sich von selbst; hauptsächlich aber beobachte ich Nelly; und drittens, Wanjuscha, mußt du, ob du es nun willst oder nicht, mir behilflich sein, weil du großen Einfluß auf Nelly besitzt!«

      »Das werde ich unfehlbar tun, ich verspreche es dir«, rief ich; »und ich hoffe, Masslobojew, daß du dich hauptsächlich um Nellys willen bemühen wirst, um der armen, geschädigten Waise willen, und nicht einzig und allein um deines eigenen Vorteils willen …«

      »Ach, was geht es dich an, wessen Vorteil ich bei meinen Bemühungen im Auge habe, du Mann nach dem Herzen Gottes? Wenn wir nur unser Ziel erreichen – das ist die Hauptsache! Gewiß, hauptsächlich um der Waise willen; das ist ja schon ein Gebot der Menschenliebe. Aber du, Wanjuscha, verdamme mich nicht in Grund und Boden, wenn ich dabei auch für mich sorge! Ich bin ein armer Mensch, und er soll arme Menschen nicht ungestraft beleidigen. Er nimmt mir mein Eigentum weg, und obendrein hat mich der Schurke noch hinters Licht geführt. Und da soll ich einem solchen Gauner etwas schenken? Fällt mir nicht im Traum ein!«

      Aber unser Blumenfest am anderen Tage mißlang. Nellys Befinden hatte sich verschlechtert, und sie konnte das Zimmer nicht verlassen.

      Sie verließ dieses Zimmer überhaupt nicht mehr.

      Zwei Wochen darauf starb sie. In diesen zwei Wochen ihrer Agonie war sie fast nie mehr imstande, völlig zu sich zu kommen und sich von ihren seltsamen Phantasien frei zu machen. Ihr Geist war getrübt. Sie war bis zum Augenblick ihres Todes fest davon überzeugt, daß ihr Großvater sie zu sich rufe und auf sie böse sei, weil sie nicht komme, und daß er mit dem Stock aufstoße und ihr befehle, bei gutherzigen Menschen um Geld und Brot und Tabak für ihn zu betteln. Oft begann sie im Schlaf zu weinen und erzählte dann nach dem Aufwachen, daß sie ihre Mama gesehen habe.

      Nur selten kehrte ihr die Denkkraft in vollem Umfang wieder. Eines Tages war ich mit ihr im Zimmer allein geblieben; da reckte sie sich zu mir hin und ergriff meine Hand mit ihrem mageren, von der Fieberglut heißen Händchen.

      »Wanja«, sagte sie zu mir, »wenn ich sterbe, dann heirate Natascha.«

      Das schien schon lange ihr beständiger Gedanke zu sein. Ich lächelte ihr schweigend zu. Als sie mein Lächeln sah, lächelte sie selbst, drohte mir schelmisch mit ihrem mageren Fingerchen und begann sogleich, mich zu küssen.

      Drei Tage vor ihrem Tod, an einem wunderschönen Sommerabend, bat sie, wir möchten in ihrem Schlafzimmer das Rouleau in die Höhe ziehen und das Fenster öffnen. Das Fenster ging auf den Garten hinaus; sie blickte lange in das dichte Grün, nach der untergehenden Sonne und bat dann auf einmal, man möchte sie mit mir allein lassen.

      »Wanja«, sagte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, da sie schon sehr schwach war, »ich werde bald sterben, sehr bald, und ich möchte dich bitten, mich nicht zu vergessen. Zum Andenken hinterlasse ich dir dies hier«

      (sie zeigte mir ein großes Amulett, das sie nebst ihrem Taufkreuz auf der Brust hängen hatte). »Das hat mir Mama hinterlassen, als sie starb. Also wenn ich sterbe, dann nimm du dieses Amulett als dein Eigentum und lies, was darin geschrieben steht! Ich werde auch allen heute noch sagen, daß sie dir dieses Amulett zu alleinigem Besitz überlassen sollen. Und wenn du gelesen haben wirst, was darin geschrieben steht, dann geh zu ihm und sage ihm, daß ich gestorben bin, ihm aber nicht verziehen habe. Sage ihm auch, daß ich kürzlich das Neue Testament gelesen habe. Da ist gesagt, daß wir allen unseren Feinden verzeihen sollen. Ja, ich habe das gelesen; aber ihm habe ich dennoch nicht verziehen; denn als Mama im Sterben lag und noch reden konnte, da war das Letzte, was sie sagte: »Ich verfluche ihn!«, und darum verfluche ich ihn auch; nicht um meinetwillen, sondern um Mamas willen verfluche ich ihn… Erzähle ihm, wie Mama gestorben ist, wie ich allein bei der Bubnowa zurückgeblieben bin; alles, alles erzähle ihm, und sage ihm zugleich, daß ich lieber bei der Bubnowa geblieben als zu ihm gegangen sein würde …«

      Während Nelly das sagte, war sie ganz blaß geworden; ihre Augen funkelten, und ihr Herz begann so heftig zu schlagen, daß sie auf die Kissen zurücksank und einige Minuten lang kein Wort herausbringen konnte.

      »Rufe sie her, Wanja!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme; »ich will von ihnen allen Abschied nehmen. Leb wohl, Wanja!«

      Sie umarmte mich krampfhaft zum letztenmal. Die Unsrigen kamen alle herein. Der Alte konnte es gar nicht fassen, daß sie so bald sterben solle; er konnte diesem Gedanken gar nicht Raum geben. Er stritt bis zum letzten Augenblick mit uns allen und versicherte, sie werde unfehlbar wieder gesund werden. Er wurde vor Sorge ganz mager und saß ganze Tag über und sogar nachts an Nellys Bett. In den letzten Nächten machte er kein Auge zu. Er suchte Nellys geringste Wünsche im voraus zu erraten, und wenn er aus ihrem Zimmer zu uns kam, so weinte er bitterlich, fing aber einen Augenblick darauf schon wieder an, zu hoffen und uns zu versichern, daß sie wieder genesen werde. Er stellte ihr ganzes Zimmer voll Blumen. Einmal kaufte er einen großen Strauß der prächtigsten weißen und roten Rosen, die er von irgendwoher für seine liebe, kleine Nelly geholt hatte … Durch all dies regte er sie sehr auf. Eine solche allgemeine Liebe erweckte in ihrem Herzen mit Notwendigkeit die gleichen Gefühle. An diesem Abend, dem Abend, an dem sie uns Lebewohl sagte, wollte der Alte durchaus nicht für immer von ihr Abschied nehmen. Nelly lächelte ihm zu und bemühte sich den ganzen Abend, heiter zu scheinen, scherzte mit ihm und lachte sogar … Wir alle hatten, als wir von ihr hinausgingen, beinahe wieder etwas Hoffnung; aber am anderen Tag konnte Nelly nicht mehr reden. Zwei Tage darauf starb sie.

      Ich erinnere mich, wie der alte Mann ihren kleinen Sarg mit Blumen schmückte und voller Verzweiflung ihr abgemagertes, totes Gesichtchen, ihr totes Lächeln und ihre auf der Brust kreuzweise zusammengelegten Arme betrachtete. Er beweinte sie wie ein eigenes Kind. Natascha, ich und alle suchten ihn zu trösten; aber er war untröstlich und wurde nach Nellys Begräbnis ernstlich krank.

      Anna Andrejewna händigte mir selbst das Amulett aus, das sie der Toten von der Brust genommen hatte. In diesem Amulett befand sich ein Brief von Nellys Mutter an den Fürsten. Ich las ihn an Nellys Todestag durch. Sie wandte sich an den Fürsten mit einem Fluch, sagte, daß sie ihm nicht verzeihen könne, schilderte ihr ganzes Leben in der letzten Zeit und das schreckliche Los, für das sie Nelly zurückließ, und beschwor ihn, wenigstens für das Kind etwas zu tun. ›Es ist Ihr Kind‹, schrieb sie, ›es ist Ihre Tochter, und Sie wissen selbst, daß sie Ihre legitime Tochter ist. Ich habe ihr befohlen, nach meinem Tod zu Ihnen zu gehen und Ihnen diesen Brief zu übergeben. Wenn Sie Nelly nicht verstoßen, dann werde ich Ihnen vielleicht in jener Welt verzeihen und am Tag des Gerichtes selbst vor Gottes Thron treten und den Richter anflehen, Ihnen Ihre Sünden zu vergeben. Nelly kennt den Inhalt meines Briefes; ich habe ihn ihr vorgelesen; ich habe ihr alles erklärt; sie weiß alles, alles…«

      Aber


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