Der Landdoktor Staffel 3 – Arztroman. Christine von Bergen
Das Fenster von Christians Schlafzimmer war weit geöffnet, und der dunkle Wald oberhalb seines Hauses war zum Greifen nah. Würzige Luft erfüllte den gemütlich eingerichteten Raum.
Arm in Arm, Herz an Herz, betrachteten Angela und Christian den goldenen Glanz der versinkenden Sonne, die noch über den Wipfeln der Tannen hing.
»Ich habe Hunger«, sagte Angela. Sie hob den Kopf, sodass sie Christian ins Gesicht schauen konnte. »Wie war das mit dem Kochen?«
Er lachte, zog sie wieder fest an sich. »Ja, ich kann’s«, bestätigte er ihr. »Und ich habe auch alle Zutaten für das Menü eingekauft, das ich für heute Abend vorgesehen hatte, aber…«
Sie hob die Brauen.
»Aber …?«, fragte sie nach.
»Was hältst du davon, wenn ich dich stattdessen doch lieber zum Essen einlade. In unser Gartenlokal, das ganz in der Nähe liegt.« Er seufzte laut auf. »Ganz ehrlich, heute möchte ich gern faul sein.«
»Faulheit akzeptiert.« Sie lachte und rieb liebevoll ihre Nasenspitze an seiner glatten gebräunten Brust.
»Das Menü mache ich morgen Mittag. Okay?«
»Absolut okay«, stimmte sie ihm zu.
Dann richtete er sich im Bett auf und sah sie auffordernd an. »Lass uns aufstehen und uns der Welt dort draußen wieder stellen, bevor du mir in den Armen verhungerst.«
*
Eine Viertelstunde später betraten die beiden das Lokal, in dem ein kleiner Tisch nur auf sie gewartet zu haben schien. Alle anderen waren besetzt. Es war ein herrlicher Sommerabend, lau und duftend die Luft. Bunte Lichterketten hingen in den alten Linden, über dem Garten lag die Atmosphäre heiterer Gelassenheit. Auf dem Weg zu dem letzten freien Tisch blieb Angela plötzlich stehen.
»Dr. Brunner!«, rief sie überrascht aus.
Sie stellte das ebenso überraschte Arztehepaar und ihren Traummann einander vor und liebte Christian gleich noch ein bisschen mehr, als dieser ganz unbefangen und unterhaltsam mit den beiden Älteren plauderte.
»Wollt ihr euch zu uns setzen?«, bot der Landdoktor ihnen an.
Daraufhin versetzte ihm seine Frau einen liebevollen Stups.
»Die beiden jungen Leute wollen bestimmt den Abend allein verbringen«, sagte sie, wobei sie ihre schönen blauen Augen voller Unverständnis über den Vorschlag ihres Ehemannes verdrehte. »Wir waren doch auch einmal jung. Schon vergessen, mein Schatz?«
Da lachte Matthias Brunner fröhlich, drückte ihre Hand und meinte: »Nur für diese eine Sekunde, aber du hast recht, Liebes.« Er wandte sich wieder Angela und Christian zu. »Nun geht schnell, sonst ist der eine Tisch auch noch besetzt und ihr müsst wirklich mit unserem vorliebnehmen. Schön, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er zu Christian und zwinkerte Angela danach verschwörerisch zu.
Gut gemacht, las Angela in seinem Blick. Du bist auf dem richtigen Weg.
Mit der stummen Zustimmung ihres behandelnden Arztes hakte sich die junge Frau bei ihrem Traummann ein und ging umso beschwingter zum anderen Ende des Lokals.
*
Trotz des Gästeandrangs, der an dem lauschigen Sommerabend dort herrschte, wurden die beiden flugs bedient. Ausgehungert und mit großem Appetit machten sie sich über ihr Schäufele her, tranken dazu ein Glas Glottertaler und nahmen auch noch ein Dessert zu sich. Während des Essens erzählte Angela, dass sie seit Kurzem Patientin von Dr. Brunner war. Und auch, dass sie von den Häferles adoptiert worden war.
Voller Betroffenheit sah Christian sie an. »So sehr belastet dich deine häusliche Situation?«
»So sehr hat sie mich belastet«, verbesserte sie ihn lächelnd. »Heute Abend sitze ich hier bei dir. Wir verbringen das Wochenende zusammen. Das ist ein großer Fortschritt für mich.«
»Nur weil du adoptiert bist, musst du doch nicht aus Dankbarkeit dein Leben deiner Familie opfern«, wunderte er sich.
Sie lächelte schief. »Wahrscheinlich besitze ich ein völlig übertriebenes Verantwortungsgefühl«, murmelte sie vor sich hin. »Aber ich bin ja gerade dabei, dieses in gesunde Bahnen zu lenken«, fügte sie ernst hinzu.
»Verantwortungsgefühl ist eine menschliche Eigenschaft, die ich sehr schätze. Sie macht dich noch liebenswerter, aber diese Eigenschaft darf nicht selbstzerstörerisch werden«, erwiderte Christian mit eindringlichem Blick.
Da sie sich an diesem Abend gar nicht mit diesem sie belastenden Thema auseinander setzen wollte, lächelte sie ihn an und meinte mit schelmischem Blick: »Jetzt habe ich ja dich, der mich bestimmt vor der Selbstzerstörung bewahren wird.«
»Das werde ich. Und zwar aus ganz egoistischen Gründen«, beteuerte der geliebte Mann ihr.
Dann machten sich die beiden satt, rund und glücklich eng umschlungen auf den Rückweg. Matthias und Ulrike Brunner waren nirgends mehr zu sehen. Sie mochten bereits auf dem Rückweg nach Ruhweiler sein.
*
Kaum hatte Christian die Tür aufgeschlossen, als ein schriller Klingelton die Stille des Hauses durchschnitt.
Die beiden sahen sich erstaunt an.
»Meins ist es nicht«, sagte Christian.
Angela schloss zwei, drei Klingeltöne lang die Augen. Natürlich gehörte das Handy ihr, das da so fordernd rief. Und natürlich würde der Anrufer jemand aus ihrer Familie sein. Konnte sie denn nicht wenigstens einmal nur vierundzwanzig Stunden lang ihre Ruhe haben?
Mit festen Schritten ging sie in die Stube, wo sie ihre Handtasche hingelegt hatte.
»Ja?« Sie hörte selbst, wie ungeduldig ihre Stimme klang.
Es war ihr Vater, der in alarmierendem Ton sagte: »Deiner Mutter geht es schlecht. Sie kann kaum mehr atmen und hat Schmerzen in der linken Brust.«
Herzinfarkt, signalisierte ihr jäh das Gehirn.
Sie schluckte. Eine eiskalte Faust legte sich um ihr Herz.
»Ruf Dr. Brunner an. Er soll sofort kommen«, sagte sie mit belegter Stimme.
Den Bruchteil einer Sekunde später jedoch fragte sie sich, ob der Landarzt, den sie erst vor kurzer Zeit im Gartenlokal getroffen hatte, überhaupt schon in Ruhweiler sein konnte.
»Oder das Krankenhaus«, fügte sie hastig hinzu. »Das Kreiskrankenhaus soll einen Rettungswagen schicken. Sag denen, Mama würde Symptome eines Herzinfarktes zeigen.«
»Du weißt doch, dass deine Mutter nur von Dr. Brunner behandelt werden möchte«, gab ihr Vater verzweifelt klingend zurück.
»Papa.« Diese zwei Silben knallten wie Pistolenschüsse durch die Leitung. »Falls Dr. Brunner nicht erreichbar sein sollte, muss sie halt mit einem anderen Arzt vorliebnehmen.«
Die Alternative wäre zu sterben, wollte sie noch hinzufügen, brachte aber diesen Satz dann doch nicht über die Lippen.
»Ja, ja, ich rufe an«, beruhigte ihr Vater sie. »Aber sie braucht dich jetzt. Sie möchte, dass du nach Hause kommst.«
Angela erstarrte innerlich.
Nein, sie wollte in dieser Nacht bei Christian bleiben, wollte am nächsten Morgen in seine Armen aufwachen. An diesem Wochenende wollte sie vierundzwanzig Stunden lang endlich einmal ihr eigenes Leben leben.
»Papa, du bist doch bei Mama«, sagte sie wenig überzeugend.
»Ich bin doch nur eine halbe Person«, machte ihr Vater ihr wieder einmal bewusst.
»Und was ist mit Jenny?« Sie klang jetzt richtig aggressiv.
»Die schläft«, lautete die Antwort.
»Dann weck sie auf. Sie soll sich an Mamas Bett setzen und sie beruhigen.«
»Du kennst sie doch.« Ihr