Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
Es schien ihm zu genügen, daß er nur in der Nähe eines Menschen war, der ihn in seiner früheren guten Zeit gekannt.
Nun hatten aber bald einige günstig angebrachte Entwürfe den Herrn in den Stand gesetzt, für einige Zeit einen eigenen Taglöhner halten zu können. Da zimmerte sich der Märt aus noch wohlerhaltenen Balken, wie sie zuweilen doch aus dem Schutt hervorkamen, eine kühne spindelige Treppe vom Schutthügel aus bis zu einer Mauerlücke im Bergfried, die er verbreiterte, so daß er sich mühsam hineinzwängen konnte. Die Wendeltreppe führte noch hinauf zu einem Stübchen, in dem ein Taubenschlag gewesen war. Dort richtete er sich ein mit einem weißen Taubenpärchen, das er zärtlich liebte. In diesem etwas luftigen Ort hauste er nun, und an Sonntagen hämmerte, klopfte und bastelte er daran herum. Die Tauben bekamen ihr gesondertes Quartier; die Fensterluken aus alten bleigefaßten Scheibenstücken, die sich in Resten noch vorfanden, ergaben eine primitive Verglasung. Dann schaffte er, nicht ohne lebensgefährliche Turnkünste, sein Bett, seine Truhe, ein handgroßes Spiegelchen und ein großes gerahmtes Bild hinauf. Das Bild stellte ihn dar, wie er in kühner Haltung mit erhobenem Säbel auf einem prachtvollen Schimmel dahersprengte. Sein etwas windschiefer Dickkopf in Photographie auf den Halskragen geklebt. Dies war sein größter Schatz außer dem silberbeschlagenen großen Gesangbuch seiner Mutter, das er in ein rotes Taschentuch gewickelt in seiner Truhe geborgen hatte. Das Bild wurde mit großer Mühe an der rauhen Wand befestigt, Bett und Truhe aufgestellt, und die Einrichtung war im Rohen fertig. Der Graf warnte ihn freilich, er werde von da aus viel weiter an seine Arbeitsstätte haben, aber der Märt meinte, er wolle nur noch im Winter, wenn nichts mehr in der Ruine zu schaffen sei, in den Holzschlag gehen und sein frei Quartier in der übrigen Zeit mit Arbeit wett machen.
Zuerst wollte es dem Thorsteiner angst werden, wie er auch noch einen zweiten Menschen erhalten sollte, aber es mußte doch eine merkwürdige Kraft liegen im Heimatboden: hatte er in Berlin sich kaum selbst erhalten können, so trug es jetzt schon, daß zwei Menschen lebten und der Thorsteiner seinem Märt einen Knechtslohn auszahlen konnte.
Den zweiten Winter lebten sie schon so miteinander. Aus dem einen Taubenpärchen war ein Schwarm weißer Flügel geworden, die sich in anmutigen Kreisen über dem grauen Gemäuer und den dunkeln Waldwipfeln hoben und senkten. Märts Liebe hörte aber mit der weißen Farbe auf, jedes bunte Tierchen wanderte erbarmungslos in den Kochtopf. Der Märt kochte nun auch das spartanische Essen der beiden Schloßbewohner. Es gab immer eine Menge für ihn zu tun, und das Holzspalten gehörte zu den Feierabendbeschäftigungen, die sein Herr zuerst mit ihm teilte. Es wurden aus einem der halb eingestürzten Riesenkamine, der sich neben der Hofstube befand, eine Küche gebaut, die noch vorhandenen Ställe repariert. Darin stand nun die gute braune Kuh Selma in Gesellschaft mit dem zierlichen Rehzickchen, das Märt auf der Schutthalde gefunden und mit der Flasche aufgepäppelt hatte. Sie nährten sich von dem Gras der Schloßgräben und Hänge, wo Märt und sein Herr Heu und Öhmd machten. Seit die gute Selma mit ihrer Milch der Küche Märts einigen Hinterhalt verlieh, sahen der Herr und sein Knecht entschieden besser aus; auch das finstere Antlitz des tauben Märt war viel heller geworden. Seinem Herrn gegenüber behielt er vollständig die Allüren des Burschen wie bei seinem alten Oberst bei, nur zu notwendigen Botengängen verließ er die Ruine. Der Sonntagnachmittag war stets der Verschönerung seiner Wohnung gewidmet. Noch immer lief die spindelige, nur für absolut schwindelfreie Menschen zu gebrauchende Treppe hinauf, aber zu einem Mauerloche guckte ein Rohr heraus, dem an Wintersonntagen ein bläulicher Rauch entstieg. Dann bullerte in dem hohen, nun weiß getünchten Raum ein Kanonenöfchen, die Tauben in ihrem Revier glucksten und gurrten leise, und der Märt mit seiner Pfeife und irgendwelchem Bastelwerk unter den Händen bot dann das Bild eines wohlzufriedenen Turmwächters der guten alten Zeit dar.
Und jetzt erschien der Märt mit der Kiste, die aus früherer Zeit her noch die Regimentsbezeichnung trug, und entnahm ihr den einzigen Anzug des Grafen, für den die Bezeichnung Räuberzivil nicht gelten konnte. Einige kunstvolle Bürstenstriche von Märt, und mit leisen Seufzern zwängte sich der Thorsteiner in das ungewohnte Stück. – Da, halt, – fallen ihm des Seelchens Puppenschmerzen ein. Wie wär's, wenn er ihr für die arme, so schmählich verstümmelte Lilla einen Ersatz schaffte? Aber dann mußte er schon jetzt in die Stadt gehen, vielleicht daß doch noch ein Laden für Leute, die noch rasch ein Geschenk brauchten, offen war. Er packte Wachsreste und noch verschiedenes in einen Kasten, warf ein großes Cape um seine Pracht und überließ dem erstarrt blickenden Märt sein Schloßgut zur Verwahrung.
Quer durch den Wald die eisige Halde hinunter, wie gestern Märt, konnte er nicht gelangen, so mußte er die Chaussee nehmen, beinahe zwei Stunden Wegs. Nach einer Stunde schon taucht der langgestreckte Bergrücken, der das Schloß trägt, vor ihm auf. Ein schöner Park, jetzt verschneit und dunkel, schlingt seine Arme um den Schloßberg. Zwischen zwei finstern alten Rundtürmen schaut ein feiner Renaissancegiebel ins Tal hinunter; ein Gewirr von großen und kleinen Dächern, so wie sie Notwendigkeit oder die Freude am eigenen kleinen Nestchen im Lauf der Jahrhunderte an die alten Mauern gehängt hatte, machte das früher wohl düstere Bild nun freundlich und lebendig. Jetzt lag der leichte Silberreif eines dünnen Schnees auf jedem Giebel und Vorsprung von Mauer, Türmen und Palas. Unter dem grauen Himmel, dem ein zartes Flockengewirr entschwebte, sah das Schloß so weltfern, so märchenhaft aus, als könnten sämtliche goldhaarige Prinzessinnen, treue und törichte Königssöhne, finstere Könige, kluge Königinnen, die mehr können als Brot essen, aus Grimms Märchenbuch darin gewohnt haben. Seine Künstleraugen liebkosten die fein gewachsenen Formen, in denen jede Zeit ihren Ausdruck gefunden hatte. Aus der Neuzeit stammte freilich nur das recht häßliche Ecktürmchen, auf dem heute, wegen der Anwesenheit des Fürsten, die weißblaue Fahne flatterte.
Wo mochte wohl des Seelchens Reich sein? – Wie gut es da hineinpaßte, die letzte feine, ach gar zu feine Blüte, die der alte Stamm getrieben! – Ob sie wohl heute die rechten Worte gefunden hatte? Gestraft würde sie ja nicht werden, im Gegenteil, der Fürst war nur freudige Überraschung gewesen über den Streich seiner Kleinen, über die Überlegung und Kühnheit, mit der sie ihren Gedanken ausgeführt hatte. Wer ihr das zugetraut hätte? Freilich war auch Märts Nachricht der schlimmen andern zuvorgekommen.
Nun wand sich der Weg eine altertümliche Steige hinauf, eine von jenen, die uns immer wieder mit Verwunderung erfüllen über die Nerven von Menschen und Gäulen, die einst diese Wege benützten. Dann stillverschneite Gärten und eine stille Straße, von hohen schmalbrüstigen Giebelhäusern umstanden, ein uraltes Tor mit Torturm, an den ein Barockhäuschen angeklebt ist, vor dem vor hundert Jahren wohl die strickende Wache weiland Serenissimi saß. – Ganz Spitzweg. – Und gegenüber das Lädchen des Georg Häring, das Entzücken der Braunecker Jugend, wo immer noch verheißungsvolle Zinnsoldatenschachteln, ein Hampelmann und ein winziges Pappkarussel auf Käufer warten. Mit sehr gebücktem Haupt muß sich der lange Thorsteiner hineinwinden, wo ihn die freundliche Frau mit fragendem Erstaunen empfängt.
»Eine Puppe.«
»Ja, aber die angezogenen sind alle ausgegangen, und die andern sind nicht für bessere Herrschaften!«
Eine sei noch da, aber mit der sei leider ein Unglück passiert, und damit zieht die Frau bedauernd eine Puppenschönheit aus einer Schachtel, hellockig, der aber das Näschen schlimm zerstoßen ist. Harro strahlt.
»Herrlich! Ich nehme sie... Nur das Hemdchen, das das Unglücksgeschöpf anhat, ist freilich ein Übelstand. So kannst du nicht zu Hofe gehen, du Ohnenäschen!«
Aber da fällt ihm das Nähröschen ein, mit den vielen Geschwistern. Seinen Kasten unter dem Arm geht er nun die Straße hinauf, wo über einer Steintreppe ein Zeichen hängt, ein etwas merkwürdiger Ochse, in dessen bedauernswertem Haupt schon die Axt steckt. Dort ist zum Glück ein geheiztes Eckchen zu haben, der Frau Postmeisterin eigene Wohnstube, die sie ihm einräumt. Sie selbst steht jetzt drunten in der dampfenden Küche und regiert über eine verwirrende Menge von Töpfen.
»Sie essen doch mit an der Tafel, Herr Graf?«
»Ach bitte, schicken Sie mir etwas herauf!«
Es gelüstet ihn nicht nach der Gesellschaft der alten eingesessenen »besseren Herren«, des Herrn Postverwalters und des Herrn Notars und des Herrn Amtsrichters, über deren mittäglicher Vereinigung die graue Fledermaus der Langeweile