GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor). A.R. Shaw
großen Müllcontainer vor einem kleinen Supermarkt hell brannte, konnte Campos nicht weit sein.
Er blickte durch das Fernglas und beobachtete den Eingang des Supermarkts, aber er konnte den Mann hören, bevor er ihn sah. Hyun-Ok hatte ihn gut beschrieben. Bei diesem Kerl fehlten mehr als nur ein paar Tassen im Schrank. Als Graham der Stimme folgte – oder besser den Stimmen, denn es schienen mehrere zu sein – erblickte er einen Kerl, der einen Einkaufswagen mit quietschenden Rädern schob, oft anhielt und laut redete, während er sich auf das lodernde Feuer zubewegte.
Graham versuchte, dem Selbstgespräch des Mannes zu folgen. Campos flüsterte eine Weile und warf dann abrupt den Kopf herum. Von einer Sekunde auf die andere veränderten sich seine Persönlichkeit und das Timbre seiner Stimme völlig. Er schrie: »Ich wusste, dass du ein verdammtes verschwendetes Spermium bist! Ich hatte recht, du kleiner Bastard. Gib es zu!« Dann folgte eine andere Stimme in einer schrillen, weiblichen Tonlage: »Hör auf, ihn zu quälen, du Arschloch! Er arbeitet, kannst du das nicht sehen?«
Die Szene ließ Graham kalte Schauer über den Rücken laufen. Mit dem Fernglas suchte er die Gegend nach einer alternativen Route ab, die sie in Sicherheit bringen konnte. Er musste Bang und sich selbst durch diesen Ort und möglichst weit weg von Campos bringen.
Was für ein Narr er gewesen war, zu denken, mit diesem Kerl reden zu können. Was zum Teufel hatte ihn dabei geritten? Campos war wortwörtlich brandgefährlich. Sein Vater hatte Graham mit auf den Weg gegeben, dass er neue Regeln für sich selbst aufstellen musste, und diese hier lautete ganz klar: Halt dich von Wahnsinnigen fern. Kein Zweifel, der Mann war eine echte Gefahr und zudem schwer bewaffnet. Obendrein trug er ein grobschlächtig wirkendes Beil, das an einer Schlaufe von seinem Gürtel herabhing. Ein Gespräch mit diesem Typen war das Letzte, worauf Graham Lust hatte.
Zu ihrem Unglück verlief die Hauptstraße geradewegs an dem kleinen Supermarkt vorbei, in dem der Verrückte gerade zugange war. Eine andere Möglichkeit wäre es, den ersten Abzweig links vor dem Supermarkt zu nehmen, der um den Block herum und dahinter wieder zur Hauptstraße zurückführte. Bei dieser Variante hätten sie immer noch eine direkte Sichtlinie, wenn sie den Mann kommen hörten. Die nächste Variante war, die Straße in Richtung der Tankstelle zu überqueren, den ersten Abzweig nach rechts zu nehmen und dann den Supermarkt weiträumig über mehrere Blocks zu umgehen. Sobald der Abstand zwischen ihnen und dem Supermarkt groß genug war, könnten sie wieder auf die Hauptstraße einschwenken. In beiden Fällen konnte Campos sie entdecken, aber die zweite Variante war weniger riskant.
Graham überlegte, ob es etwas brachte, Campos noch ein paar Minuten zu beobachten. Vielleicht ließ sich herausfinden, wie lange er brauchte, um wieder voll beladen aus dem Supermarkt zu kommen. Er kam zu dem Schluss, dass das vermutlich ein vergebliches Unterfangen war, denn sein mentaler Zustand machte Campos so berechenbar wie russisches Roulette. Auf die Abenddämmerung war die Dunkelheit gefolgt, aber es blieb ihnen das Licht des Vollmondes. Graham hatte gehofft, Campos würde irgendwann die Arbeit einstellen und sich schlafen legen, sodass der Junge und er unentdeckt vorbeischleichen konnten. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, der ihm die Haare auf den Armen zu Berge stehen ließ: Was würde geschehen, wenn der Wahnsinnige den Jungen in seine Finger bekam? Dann erinnerte sich Graham an das Versprechen, das er Hyun-Ok gegeben hatte. Koste es, was es wolle, er würde dafür sorgen, dass der Junge unversehrt blieb.
Als Campos das nächste Mal im Supermarkt verschwand, vermutlich um seinen Wagen neu zu beladen, setzte Graham das Fernglas ab und zog sich zurück. Er sog entsetzt die Luft ein und verschluckte sich fast, als er bemerkte, dass jemand direkt neben ihm stand. Er hatte Bang nicht kommen hören und fragte sich, wie lange der Junge schon dort stand. Das Adrenalin rauschte durch seine Adern. Graham bedeckte seine Brust mit den Händen, um sein pochendes Herz zu beruhigen. »Himmel noch mal, Bang! Mach das nie wieder«, keuchte er.
Bang ignorierte die Ermahnung und deutete auf die Abfahrt des Highways hinter ihnen. Dann hörte auch Graham das Geräusch, das sich ihnen näherte. Er zog Bang hinter die Leitplanke, brachte das Gewehr in Anschlag und spähte zwischen den Lücken der Leitplanke hindurch nach dem Verursacher des Lärms.
»Es sind Mädchen«, flüsterte Bang Graham von hinten ins Ohr.
»Wie viele siehst du?«, flüsterte er zurück.
»Nur zwei, aber sie sehen genau gleich aus«, antwortete Bang.
Graham machte auf diesen Kommentar hin ein fragendes Gesicht, auch wenn Bang es in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Er schaute durch das Fernglas und erblickte zwei Mädchen, die gerade mitten auf der Straße die Abfahrt hinunter auf sie zu liefen. Ein Hund folgte ihnen auf dem Fuß. Sie schienen keine Angst vor ihm zu haben. Die Mädchen sahen aus wie Teenager. Beide trugen Jeans und T-Shirt, waren sehr drahtig und hatten Rucksäcke umgeschnallt. Ihr schulterlanges, welliges Haar wippte auf und ab, während sie durch die mit Fahrzeugen übersäte Straße liefen. Jetzt ergab Bangs Kommentar Sinn: Ganz offensichtlich waren es Zwillinge. Weniger Sinn ergab die Tatsache, dass die beiden laut sangen.
Graham wurde bewusst, dass die Mädchen innerhalb der nächsten Minuten an ihrem Versteck vorbeikommen würden. Was sollte er tun? Womöglich liefen sie geradewegs in eine tödliche Falle, wenn der Wahnsinnige sie entdeckte. Ganz sicher wollte Graham nicht noch mehr Verantwortung tragen. Trotzdem musste er sie zumindest vor der Gefahr warnen. Er überlegte, ob sie an der Kreuzung vielleicht rechts abbiegen und einfach der Straße aus dem Ort heraus folgen würden. Dann wäre alles gut. Wenn sie aber links abbogen, waren sie in Schwierigkeiten. Nicht auszudenken, was Campos mit ihnen anstellen mochte.
Was soll ich tun? Ich kann sie nicht einfach in ihr Verderben laufen lassen, aber ich will mir auch nicht noch mehr ans Bein binden. »Scheiße«, sagte er leise und hoffte, dass Bang sein Fluchen nicht gehört hatte.
Graham versuchte abzuschätzen, wie lange die Mädchen bis zu der Stelle brauchen würden, an der Bang und er versteckt waren. Er spähte wieder durch sein Fernglas, um zu sehen, wo sich der Verrückte aufhielt. Er hoffte, dass er zu beschäftigt war, um die Mädchen singen zu hören.
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