Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
unsere Gesellschaft«, wie es Grautoff genannt hat, und religiöses Bekenntnis eines Einsamen, es ist Kritik (aber produktive) der Wirklichkeit und Schöpferanalyse des Unbewußten, eine Symphonie in Worten und ein Freskobild der zeitgenössischen Ideen. Es ist eine Ode an die Einsamkeit und eine Eroika der großen europäischen Gemeinsamkeit – jede Definition faßt nur einen Teil und keine das Ganze. Denn im Literarischen läßt sich nicht begrenzen, was eine moralische, eine sittliche Tat ist, und Rollands bildnerische Kräfte greifen immer unmittelbar in den innern Menschen hinein: sein Idealismus ist eine glaubensstärkende Kraft, ein Tonikum der Vitalität. Sein Johann Christof ist ein Versuch der Gerechtigkeit: das Leben zu erkennen. Und ein Versuch des Glaubens: das Leben zu lieben. Und beides schließt sich zusammen in seiner moralischen Forderung (der einzigen, die er je dem freien Menschen gestellt hat): »Das Leben erkennen und es dennoch lieben«.
Was dies Buch sein will, sagt sein eigener Held als er die Abseitigkeit, die in tausend Teile zersprengte Kunst seiner Zeit betrachtet. »Das Europa von heute hatte kein gemeinsames Buch mehr, nicht ein Gedicht, ein Gebet, eine Tat des Glaubens, die ihnen allen gehörte. Und dies ist eine Schmach, die alle Künstler unserer Zeit niederschmettern sollte. Nicht einer, der für alle geschrieben, für alle gedacht hat.« Diese Schmach wollte Rolland tilgen, er wollte für alle schreiben, nicht bloß für sein Vaterland, sondern für alle Nationen, nicht nur für die Künstler und Literaten, sondern allen jenen, die um das Leben und die Zeit zu wissen begehren, ein Bild des Lebens inmitten ihrer eigenen Gegenwart schenken. Johann Christof sagt selbst den ganzen Willen seines Schöpfers: »Zeige den Alltagsmenschen das Leben des Alltags: es ist tiefer und weiter als das Meer. Der Geringste von uns trägt in sich eine Unendlichkeit… Schildere das einfache Leben eines dieser schlichten Menschen…, schildere es einfach, wie es abläuft. Kümmere dich nicht um das Wort, um die künstlichen Versuche, in denen die Kraft der Dichter von heute sich erschöpft. Du sprichst zu allen, so sprich ihre Sprache… Sei ganz in dem, was du schaffst, denke, was du denkst, fühle, was du fühlst. Der Rhythmus deines Herzens trage dein Wort: Stil ist Seele.«
Ein Lebensbuch, kein Kunstbuch sollte der Johann Christof sein, und ist es geworden, ein Buch, das auf das Ganze des Menschlichen geht, denn »l’art est la vie domptée« – »die Kunst ist das gebändigte Leben«. Es stellt nicht, wie die meisten Werke der Zeit, das erotische Problem in den Mittelpunkt, weder dieses, noch überhaupt eines: er sucht alle Probleme, die an das Wesenhafte rühren, von innen heraus »aus dem Spektrum eines Einzelnen«, wie Grautoff sagt, zu erfassen. Die Zentrierung ist innen in dem einzelnen Menschen, Wie er das Leben sieht, oder besser: wie er es sehen lernt, das ist das Urmotiv des Romans. Man mag ihn deshalb einen Erziehungsroman nennen im Sinne des Wilhelm Meister. Der Erziehungsroman will in Lehr-und Wanderjahren zeigen, wie ein Mensch das fremde Leben erlernt und damit das eigene bewältigt, wie er durch Erfahrungen die angelernten, vielfach irrigen Begriffe über alle Dinge in Anschauung verwandelt, die Welt sich aus einem äußeren Sein in ein inneres Erlebnis umsetzt. Wie er wissend wird aus einem bloß Neugierigen, gerecht aus einem bloß Leidenschaftlichen.
Aber dieser Erziehungsroman ist gleichzeitig ein historischer Roman, eine »Comédie humaine« im Sinne Balzacs, eine »Histoire contemporaine« im Sinne Anatole Frances und wie jene letztere auch in mancher Beziehung ein politischer Roman. Nur daß Rolland in seiner viel ausgreifenderen Art nicht bloß die Geschichte seiner Generation darstellt, die historische, sondern auch die Kulturgeschichte seiner Epoche, also alle Ausstrahlungen des einheitlichen Zeitgefühls in alle Formen, Dichtung wie Sozialismus, Musik und Kunst, Frauenfrage und Rassenprobleme. Als ganzer Mensch umfaßt sein Christof alles Menschliche im geistigen Kosmos: er weicht keiner Frage aus, ringt mit allen Widerständen; er lebt universell, jenseits der Grenzen der Nationen, Berufe und Konfessionen und umspannt deshalb den ganzen Horizont seiner Welt.
Der historische Roman ist aber gleichzeitig wieder ein Künstlerroman, ein Roman der Musik. Sein Held ist nicht ein Spaziergänger, wie die Helden Goethes, Novalis’, Stendhals, sondern ein Schöpfer, und ähnlich wie im »Grünen Heinrich« Gottfried Kellers ist sein Weg ins äußere Leben gleichzeitig der Weg zu seiner inneren Welt, zur Kunst, zur Vollendung. Die Geburt der Musik, das Werden des Genies, ist hier ganz persönlich und doch typisch dargestellt: nicht nur Analyse der Welt soll in den Erfahrungen gegeben sein, sondern das Mysterium der Schöpfung, das Urgeheimnis des Lebens.
Mit diesem Leben baut aber dieser Roman gleichzeitig eine Weltanschauung und wird damit ein philosophischer, ein religiöser Roman. Um das Ganze des Lebens kämpfen, heißt für Rolland um seinen Sinn und Ursprung ringen, um den Gott, den eigenen, den persönlichen Gott. Der Rhythmus dieser Existenz sucht eine letzte Harmonie zwischen sich und dem Rhythmus des Seins, und aus dem irdischen Gefäß strömt im rauschenden Hymnus die Idee ins Unendliche zurück.
Solche Fülle war vorbildlos: nur in einem einzigen Werke, in Tolstois »Krieg und Frieden«, hatte Rolland ähnliche Vereinigung historischen Weltbildes, innerer Reinigung und religiöser Ekstase gefunden, jene leidenschaftliche Verantwortlichkeit zur Wahrheit, und er verändert das hohe Maß nur, indem er aus der Ferne des Krieges seine Tragödie mitten in die Gegenwart stellt und seinem Helden den Heroismus, nicht den der Waffe, sondern den des unsichtbaren Kampfes der Kunst gibt. Hier wie immer war der menschlichste aller Künstler sein Vorbild – der Künstler, dem die Kunst nicht Endzweck war, sondern nur Durchgang zu ethischer Wirkung, und im Sinne Tolstois will sein Johann Christof kein literarisches Werk sein, sondern eine Tat. Und darum fügt sich Johann Christof, die heroische Symphonie, nirgends in die bequemen Begriffe der Formulierung. Dieses Buch ist außerhalb alles Gewohnten und doch mitten in der Zeit. Es ist jenseits der Literatur und doch ihre stärkste Manifestation. Es ist oft nicht mehr Kunst und gibt doch ihre reinste Anschauung. Es ist kein Buch, sondern eine Botschaft, keine Geschichte und doch unsere Zeit. Es ist mehr als ein Werk: es ist das täglich Wunderbare eines Menschen, der sich als Wahrheit erlebt und damit das ganze Leben.
Geheimnis der Gestalten
Der Roman selbst hat keine Vorbilder in der Literatur, wohl aber seine Gestalten in der Wirklichkeit. Der Historiker in Rolland zögert nicht, einzelne Charakterzüge seiner Helden Biographien großer Männer zu entnehmen, manchmal auch die Porträts den Zeitgenossen anzunähern: in einem ganz eigenartigen, von ihm erst erfundenen Prozeß bindet er thematisch Erfundenes mit geschichtlich Verbürgtem, kombiniert einzelne Eigenarten zu neuer Synthese. Seine Charakterzeichnung ist oft mehr Bindung als Erfindung, er paraphrasiert als Musiker – immer ist sein Schöpfungsprozeß im letzten ein musikalischer – thematisch leichte Anklänge, ohne sie aber vollkommen nachzubilden. Oft meint man wie in einem Schlüsselroman schon eine Gestalt an besonderen Merkzeichen zu erkennen, da gleitet sie über in andere Gestalt: und so ist aus hundert Elementen jede Figur als neues gebildet.
Johann Christof selbst scheint vorerst Beethoven zu sein – Seippel hat ausgezeichnet die Beethoven-Studie eine »préface«, eine Vorrede des Johann Christof genannt – und tatsächlich sind die ersten Bände ganz nach dem Bilde des großen Meisters geformt. Aber bald erkennt man, daß im Johann Christof mehr versucht ist: die Quintessenz aller großen Musiker. Alle Gestalten der Musikgeschichte sind gleichsam summiert, und aus dieser Summe ist die Wurzel gezogen. Beethoven, der Größte, ist nur der Urklang darin. In seiner Heimat, am Rhein, wächst Johann Christof auf, auch seine Ahnen stammen aus flandrischem Geschlecht, auch seine Mutter ist Bäuerin, sein Vater ein Trunkenbold – nebenbei finden sich in dieser Gestalt manche Wesenszüge Friedemann Bachs, des Sohnes Johann Sebastian Bachs. Auch der Brief, den man dem kleinen Beethoven redivivus an den Fürsten in die Feder zwingt, ist ganz nach dem historischen Dokument gebildet, und die Episode des Unterrichtes bei Frau von Kerich erinnert an Frau von Breuning, aber schon früh spielt manche Reminiszenz, wie die Szene im Schloß, in Mozarts Jugend hinüber, und das kleine Abenteuer des Johann Wolfgang mit Fräulein Cannabich ist hier hinübertransponiert zu Johann Christof. Je mehr er heranwächst, um so mehr entfernt er sich vom Beethoven-Bilde: rein äußerlich gemahnt er bald mehr an Gluck und Händel, von dem Rolland an anderer Stelle die »kraftvolle Brutalität, die jeder fürchtete«, schildert, und Wort auf Wort paßt auf Johann Christof die Charakterprägung »Er war frei und