Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig

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Ihr Geist steht gleichsam oben und sieht erschreckt zu, was unten ihr Körper treibt, ihr Körper schläft gleichsam im hypnotischen Schlaf, während ihre Seele sich in Ekstase dem anderen zuwendet. Und ebenso Gruschenka, sie liebt gleichzeitig und haßt ihren ersten Verführer, liebt in Leidenschaft ihren Dimitri und mit ihrer Verehrung schon ganz unkörperlich Aljoscha. Die Mutter des »Jünglings« liebt aus Dankbarkeit ihren ersten Mann und gleichzeitig aus Sklaverei, aus übersteigerter Demut Wersilow. Unendlich, unermeßlich sind die Verwandlungen des Begriffes, den die anderen Psychologen unter dem Namen »Liebe« leichtfertig zusammenfaßten, so wie Ärzte vergangener Zeiten ganze Gruppen von Krankheiten in einen Namen drängten, für die wir heute hundert Namen und hundert Methoden haben. Liebe kann bei Dostojewski verwandelter Haß sein (Alexandra), Mitleid (Dunia), Trotz (Rogoschin), Sinnlichkeit (Fedor Karamasow), Selbstvergewaltigung, immer aber steht hinter der Liebe noch ein anderes Gefühl, ein Urgefühl. Nie ist Liebe bei ihm elementar, unteilbar, unerklärbar, Urphänomen, Wunder: immer erklärt, zerlegt er das leidenschaftlichste Gefühl. O unendlich, unendlich diese Verwandlungen, und jede einzelne wieder in allen Farben schillernd, von Kälte zu Frost erstarrend und wieder erglühend, unendlich und undurchdringlich wie die Vielfalt des Lebens. Ich will nur erinnern an Katerina Iwanowna. Sie sieht Dimitri auf einem Ball, er läßt sich ihr vorstellen, er beleidigt sie, und sie haßt ihn. Er nimmt Rache, er erniedrigt sie – und sie liebt ihn, oder eigentlich sie liebt nicht ihn, sondern die Erniedrigung, die er ihr zugefügt. Sie opfert sich ihm auf und meint ihn zu lieben, aber sie liebt nur ihre eigene Aufopferung, liebt ihre eigene Pose der Liebe, und je mehr sie ihn so zu lieben scheint, um so mehr haßt sie ihn wieder. Und dieser Haß fährt los auf sein Leben und zerstört es und in dem Augenblick, wo sie es zerstört hat, wo gleichsam ihre Aufopferung sich als Lüge offenbart, ihre Erniedrigung gerächt ist – hebt sie ihn wieder! So kompliziert ist bei Dostojewski ein Liebesverhältnis. Wie es vergleichen mit den Büchern, die schon bei der letzten Seite sind, wenn die beiden einander lieben und durch alle Fährnisse des Lebens sich gefunden haben? Wo die anderen enden, beginnen erst die Tragödien Dostojewskis, denn er will nicht Liebe, nicht laue Aussöhnung der Geschlechter als Sinn und Triumph der Welt. Er knüpft wieder an die große Tradition der Antike an, wo nicht, ein Weib zu erringen, sondern die Welt und alle Götter zu bestehen, Sinn und Größe eines Schicksals war. Bei ihm hebt sich der Mensch wieder auf, nicht mit dem Blick zu den Frauen, sondern mit der offenen Stirne zu seinem Gott. Seine Tragödie ist größer als die von Geschlecht zu Geschlecht und vom Mann zum Weib.

      Hat man nun Dostojewski in dieser Tiefe der Erkenntnis, in dieser restlosen Auflösung der Empfindung erkannt, so weiß man: es gibt von ihm keinen Weg wieder zurück ins Vergangene. Will eine Kunst wahrhaft sein, so darf sie von nun an nicht die kleinen Heiligenbilder des Gefühls aufstellen, die er zerschlagen, nie mehr den Roman in die kleinen Kreise der Gesellschaft und Gefühle sperren, nie mehr das geheimnisvolle Zwischenreich der Seele verschatten wollen, das er durchleuchtet. Als erster hat er uns die Ahnung des Menschen gegeben, die wir als erste selbst sind, im Gegensatz zu der Vergangenheit, differenzierter im Gefühl, weil beladener mit mehr Erkenntnis als alle früheren. Niemand kann ermessen, um wie viel wir in den fünfzig Jahren seit seinen Büchern den Dostojewskischen Menschen schon ähnlicher geworden sind, wie viele Prophezeiungen sich schon in unserem Blute, in unserem Geiste von seiner Ahnung erfüllen. Das Neuland, das er als erster beschritten, ist vielleicht schon unser Land, die Grenzen, die er überwunden, unsere sichere Heimat.

      Unendliches aus unserer letzten Wahrheit, die wir jetzt erleben, hat er uns prophetisch aufgetan. Er hat der Tiefe des Menschen ein neues Maß gegeben: nie hat ein Sterblicher vor ihm so viel vom unsterblichen Geheimnis der Seele gewußt. Aber wunderbar: so sehr er unser Wissen um uns selbst erweitert, nie verlernen wir an seiner Erkenntnis das hohe Gefühl, demütig zu sein und das Leben als etwas Dämonisches zu empfinden. Daß wir bewußter wurden durch ihn, hat uns nicht freier gemacht, sondern nur gebundener. Denn so wenig die modernen Menschen den Blitz, seit sie ihn als elektrisches Phänomen, als Spannung und Entladung der Atmosphäre erkennen und benennen, als minder gewaltig empfinden wie die vorherigen Geschlechter, so wenig kann unsere erhöhte Erkenntnis des seelischen Mechanismus im Menschen die Ehrfurcht vor der Menschheit vermindern. Gerade Dostojewski, der alle Einzelheiten der Seele uns wissend zeigte, dieser große Zerleger, dieser Anatom des Gefühles, gibt gleichzeitig tieferes, universaleres Weltgefühl als alle Dichter unserer Zeit. Und der so tief den Menschen gekannt wie keiner vor ihm, hat wie keiner Ehrfürchtigkeit vor dem Unbegreiflichen, das ihn gestaltet: vor dem Göttlichen, vor Gott.

      Die Gottesqual

       Inhaltsverzeichnis

       Gott hat mich mein ganzes Leben lang gequält.

      Dostojewski

      Gibt es einen Gott oder nicht?« fährt Iwan Karamasow in jenem furchtbaren Zwiegespräch seinen Doppelgänger, den Teufel, an. Der Versucher lächelt. Er hat keine Eile zu antworten, die schwerste Frage einem gemarterten Menschen abzunehmen. »Mit grimmiger Hartnäckigkeit« dringt Iwan nun in seiner Gottesraserei auf den Satan ein: er soll, er muß ihm Antwort stehen in dieser wichtigsten Frage der Existenz. Aber der Teufel schürt nur den Rost der Ungeduld. »Ich weiß es nicht«, antwortet er dem Verzweifelten. Nur um den Menschen zu quälen, läßt er ihm die Frage nach Gott unbeantwortet, läßt er ihm die Gottesqual.

      Alle Menschen Dostojewskis und nicht als Letzter er selbst haben diesen Satan in sich, der die Gottesfrage stellt und nicht beantwortet. Allen ist jenes »höhere Herz« gegeben, das fähig ist, sich mit diesen qualvollen Fragen zu quälen. »Glauben Sie an Gott«, herrscht Stawrogin, ein anderer, Mensch gewordener Teufel, plötzlich den demütigen Schatow an. Wie einen Brandstahl stößt er ihm die Frage mörderisch ins Herz. Schatow taumelt zurück. Er zittert, er wird bleich, denn gerade die Aufrichtigsten bei Dostojewski zittern vor diesem letzten Bekenntnis (und er, wie hat er selbst davor gebebt in heiligen Ängsten). Und erst wie ihn Stawrogin mehr und mehr bedrängt, stammelt er aus blassen Lippen die Ausflucht: »Ich glaube an Rußland.« Und nur um Rußlands willen bekennt er sich zu Gott.

      Dieser verborgene Gott ist das Problem aller Werke Dostojewskis, der Gott in uns, der Gott außer uns und seine Erweckung. Als echtem Russen, dem größten und wesenhaftesten, den dies Millionenvolk gebildet, ist ihm nach seiner eigenen Definition diese Frage um Gott und die Unsterblichkeit die »wichtigste des Lebens«. Keiner seiner Menschen kann der Frage entweichen: sie ist ihm angewachsen als Schatten seiner Tat, bald ihnen vorauslaufend, bald ihnen als Reue im Rücken. Sie können ihr nicht entfliehen, und der einzige, der versucht, sie zu verneinen, dieser ungeheure Märtyrer des Gedankens, Kirillow, in den »Dämonen«, muß sich selbst töten, um Gott zu töten – und beweist damit, leidenschaftlicher als die anderen, seine Existenz und Unentrinnbarkeit. Man blicke doch auf seine Gespräche, wie die Menschen vermeiden wollen, von Ihm zu sprechen, wie sie Ihm ausweichen und ausbiegen: sie möchten immer gern unten bleiben im niedern Gespräch, im »small talk« des englischen Romans, sie reden von der Leibeigenschaft, von Frauen, von der Sixtinischen Madonna, von Europa, aber die unendliche Schwerkraft der Gottesfrage hängt sich an jedes Thema und zieht es schließlich magisch in seine Unergründlichkeit. Jede Diskussion bei Dostojewski endet beim russischen Gedanken oder beim Gottesgedanken – und wir sehen, daß diese beiden Ideen für ihn eine Identität sind. Russische Menschen, seine Menschen, können sie, so wie in ihren Gefühlen, auch in ihren Gedanken nicht haltmachen, sie müssen unvermeidlich vom Praktischen und Tatsächlichen in das Abstrakte, vom Endlichen ins Unendliche, immer ans Ende. Und aller Fragen Ende ist die Gottesfrage. Sie ist der innere Wirbel, der ihre Ideen rettungslos in sich reißt, der schwärende Splitter in ihrem Fleische, der ihre Seelen mit Fieber erfüllt.

      Mit Fieber. Denn Gott – Dostojewskis Gott – ist das Prinzip aller Unruhe, weil er, Urvater der Kontraste, zugleich das Ja und das Nein ist. Nicht wie auf den Bildern der alten Meister, in den Schriften der Mystiker ist er die sanfte Schwebe über den Wolken, selig-beschauliches Erhobensein – Dostojewskis Gott ist der springende Funke zwischen den elektrischen Polen der Urkontraste, er ist kein Wesen, sondern ein Zustand, ein Spannungszustand. Er ist, wie seine Menschen, wie der Mensch, der ihn schuf, ein ungenügsamer Gott, den keine Anstrengung bewältigt, kein Gedanke erschöpft,


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