Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
ist in heroische Vergangenheit. Wagner, Nietzsche, Mazzini, Hertzen, Kossuth war sie immer befreundet gewesen, Nationen und Sprachen sind diesem freien Geiste keine Grenze, den eine Revolution der Kunst oder der Politik nie erschreckte, der, »ein Menschenmagnet«, unwiderstehlich große Naturen vertrauend an sich zog. Nun ist sie eine alte Frau, milde geworden und klar, ohne Enttäuschung als ewige Idealistin dem Leben aufgetan. Von der Höhe ihrer siebzig Jahre überschaut sie weise und verklärt verklungene Zeiten, Reichtum des Wissens und der Erfahrung strömt von ihr dem Lernenden zu. In ihr findet Rolland die gleiche sanfte Verklärtheit, die erhabene Ruhe nach vieler Leidenschaft, die Italiens Landschaft ihm teuer macht, und wie dort aus Steinen, Bildern und Monumenten die Gewaltigen der Renaissance, so wird ihm hier aus Gespräch und mancher Vertrautheit das tragische Leben der Künstler unserer Zeit bewußt. In Gerechtigkeit und Liebe lernt er hier in Rom den Genius der Gegenwart erkennen, und dieser freie Geist zeigt ihm, was unbewußt längst eigenes Gefühl vorahnte, daß es eine Höhe des Erkennens und Genießens gibt, wo Nationen und Sprachen gleichgültig werden vor der ewigen Sprache der Kunst. Und auf einem Spaziergang auf dem Janikulus bricht plötzlich in einer einzigen Vision das zukünftige europäische Werk in ihm mächtig auf: der »Johann Christof«.
Wunderbar diese Freundschaft zwischen der siebzigjährigen deutschen Frau und dem dreiundzwanzigjährigen Franzosen: bald weiß keiner mehr von ihnen, wer dem andern zu tieferem Dank verpflichtet ist: er, weil sie ihm in großer Gerechtigkeit die großen Gestalten erweckt, sie, weil sie in diesem jungen leidenschaftlichen Künstler neue Möglichkeiten der Größe sieht. Ein und der gleiche Idealismus, der geprüfte und geläuterte der Greisin, der ungestüme und fanatische des Jünglings, klingen rein ineinander: jeden Tag kommt er zur verehrten Freundin in die via della polveriera und spielt ihr auf dem Klavier die geliebten Meister vor; sie wieder führt ihn ein in den römischen Kreis der Donna Laura Minghetti, wo er die intellektuelle Elite Roms und des wirklichen Europa kennen lernt, und lenkt mit sachter Hand seine Unruhe zu geistiger Freiheit. Auf der Höhe des Lebens, im Aufsatz über die »Antigone éternelle«, bekennt Rolland, daß es zwei Frauen waren, seine christliche Mutter und der freie Geist Malvida von Meysenbugs, die ihm die volle Tiefe der Kunst und des Lebens im Gefühl bewußt werden ließen. Sie aber schreibt in ihrem »Lebensabend«, ein Vierteljahrhundert ehe Rollands Name in irgendeinem Lande auch nur genannt wird, schon ein gläubiges Bekenntnis seines zukünftigen Ruhmes. Mit Rührung liest man heute dieses Jugendbild Rollands von der zitternden Greisenhand dieser freigeistigen, klaren Deutschen hingezeichnet: »Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht erwuchs mir aus der Bekanntschaft mit diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt gewiß gerade im vorgerückten Alter keine edlere Befriedigung, als in jungen Seelen denselben Drang der Idealität, dasselbe Streben nach den höchsten Zielen, dieselbe Verachtung alles Gemeinen und Trivialen, denselben Mut im Kampfe um die Freiheit der Individualität zu finden… Zwei Jahre des edelsten geistigen Verkehres wurden mir durch die Anwesenheit dieses Jünglings zuteil… Wie schon erwähnt, war es nicht nur die musikalische Begabung des jungen Freundes, welche mir die so lange entbehrte Wohltat brachte, auch auf allen anderen Gebieten des geistigen Lebens fand ich ihn einheimisch und zu voller Entwicklung strebend, so wie ich dagegen in der beständigen Anregung die Jugend des Gedankens und die volle Intensität des Interesses für alles Schöne und Poesievolle in mir wieder empfand. Auf diesem letzten Gebiete der Poesie entdeckte ich denn auch allmählich die schöpferische Begabung des Genannten, und zwar in überraschender Weise durch eine dramatische Dichtung.« In prophetischer Weise knüpft sie an dieses Erstlingswerk die Verkündigung, daß von der sittlichen Kraft dieses jungen Dichters vielleicht eine poetische Regeneration der französischen Kunst ausgehen könne, und in einem schön empfundenen, ein wenig sentimentalischen Gedicht spricht sie ihre ganze Dankbarkeit für das Erlebnis dieser zwei Jahre aus. Die freie Seele hat geschwisterlich den europäischen Bruder erkannt wie der Meister in Jasnaja Poljana seinen Schüler: zwanzig Jahre, ehe die Welt von ihm weiß, rührt Rollands Leben so schon an heroische Gegenwart. Dem, der das Große will, bleibt es nicht verborgen: Tod und Leben senden ihm Bilder und Gestalten entgegen als Mahnung und Beispiel, aus allen Ländern und Völkern Europas grüßen Stimmen den, der einst für sie alle sprechen soll.
Die Weihe
Die beiden Jahre in Italien, Jahre des freien Empfangens und schöpferischen Genießens, gehen zu Ende. Aus Paris ruft die Schule, die Rolland als Schüler verlassen, ihn nun als Lehrer zurück. Der Abschied ist schwer, und Malvida von Meysenbug, die gütige greise Frau, findet ihm noch einen schönen symbolischen Abschluß. Sie lädt den jungen Freund ein, mit ihr nach Bayreuth zu kommen, in die unmittelbarste Sphäre des Menschen, der mit Tolstoi das Sternbild seiner Jugend war und den er nun lebendiger fühlt aus ihrer beseelten Erinnerung. Rolland wandert zu Fuß durch Umbrien, in Venedig treffen sie zusammen, sehen den Palazzo, in dem der Meister starb, und fahren dann nach Norden in sein Haus zu seinem Werk. »Damit er« – wie sie in ihrer seltsam pathetischen und doch irgendwie ergreifenden Art sagt – »mit diesem erhabenen Eindruck die Jahre in Italien und diese reiche Jünglingszeit beschließe und denselben gleichsam als Weihe auf der Schwelle des Mannesalters mit seiner voraussichtlichen Arbeit und seinen wohl nicht ausbleibenden Kämpfen und Täuschungen empfange.«
Nun ist Olivier in Johann Christofs Land. Gleich am Morgen der Ankunft führt Malvida, noch ehe sie sich bei den Freunden in Wahnfried anmeldeten, ihn in den Garten zu des Meisters Grab. Rolland entblößt wie in einer Kirche das Haupt, schweigend stehen sie lange im Gedenken an den heroischen Menschen, der dieser einen ein Freund, dem andern ein Führer war. Und abends empfangen sie sein Vermächtnis, den Parsifal. Dieses Werk, das geheimnisvoll wie auch die Stunden jener Gegenwart mit der Geburt des Johann Christof verbunden ist, wird eine Weihestunde für seine zukünftige Zeit. Dann ruft ihn das Leben aus so großen Träumen. Ergreifend schildert die Siebzigjährige diesen Abschied: »Durch die Güte meiner Freunde für alle Aufführungen in ihre Loge eingeladen, hörte ich noch einmal Parsifal zusammen mit Rolland, der dann nach Frankreich zurückgehen mußte, um in die große Gewerbstätigkeit als schaffendes Glied einzutreten. Es war mir furchtbar leid um ihn, den Hochbegabten, daß er sich nicht frei zu ›höheren Sphären‹ heben und ganz in der Entfaltung künstlerischer Triebe vom Jüngling zum Manne reifen konnte. Aber ich wußte auch, daß er dennoch am sausenden Webstuhl der Zeit mithelfen würde, der Gottheit lebendiges Kleid zu wirken. Die Tränen, die beim Schluß der Aufführung des Parsifal in seinen Augen standen, verbürgten mir aufs neue diese Annahme, und so sah ich ihn scheiden mit innigem Danke für die poesieerfüllte Zeit, die mir seine Talente bereitet hatten, und mit dem Segen, den das Alter der Jugend mitgibt in das Leben.«
Eine reiche Zeit für sie beide endet in dieser Stunde, aber nicht ihre schöne Freundschaft. Noch durch Jahre, bis zu dem letzten ihres Lebens, schreibt Rolland ihr allwöchentlich, und in diesen Briefen, die er nach ihrem Tode zurückerhielt, ist vielleicht die Biographie seiner eigenen Jugend vollkommener gebildet, als je andere sie werden sagen können. Unendliches hat er gelernt in dieser Begegnung: Weite des Wissens um das Wirkliche ist ihm nun gegeben, Zeitgefühl ohne Grenze, und er, der nach Rom gegangen, um nur vergangene Kunst zu erfassen, fand dort das lebendige Deutschland und die Gegenwart der ewigen Helden. Der Dreiklang aus Dichtung, Musik und Wissenschaft harmonisiert sich unbewußt mit dem andern: Frankreich, Deutschland, Italien. Europäischer Geist ist nun für immer der seine, und noch ehe der Dichter eine Zeile geschrieben, lebt schon in seinem Blute der große Mythos des Johann Christof.
Lehrjahre
Nicht nur die innere Linie des Lebens, auch die äußere Richtung des Berufes hat in diesen beiden Jahren in Rom entscheidende Form gewonnen: ähnlich wie bei Goethe harmonisiert sich in der erhabenen Klärung südlicher Landschaft das Widerstreitende des Willens. Ein Unsicherer, Unentschiedener war Rolland nach Italien gegangen, Musiker dem Genius nach, Dichter aus Neigung, Historiker aus Notwendigkeit. Allmählich hatte sich dort in magischer Bindung die Musik der Dichtung verschwistert: in jenen ersten Dramen strömt