Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Er bekam nur so viel, daß er gerade noch die dritte Klasse des Schnellzugs benützen konnte.
»Man soll bescheiden sein!« sagte Lenz.
Dann besprachen sie Einzelheiten.
Lenz verlangte nach dem 2. November »großzügige Reklame« für Theodor Lohse. Alle nationalen Blätter sollten ihn nennen. Sie müßten ihm das Verdienst zuschanzen, die Stadt gerettet zu haben, das Vaterland. Andererseits hätte Theodor noch Mittel, sich sehr viel anderswo zu holen.
»Man kann sie ja vorher umbringen – beide!« sagte Kamm und putzte seine Nägel mit einem Stückchen Rehleder.
»Man sollte es versuchen!« spottete Lenz.
Er nahm den Aufmarschplan der sächsischen Ordner aus der Tasche. Lenz und Theodor geleiteten Kamm zur Bahn.
Kamm stand am Fenster und winkte.
»Gruß an Seyfarth!«
»Vergessen Sie Paul nicht!« sagte Kamm.
Dann schied Lenz. Er zwängte sich durch die eilenden Scharen der Büromädchen. Er stieß an geschminkte Frauen, die verloren dastanden.
Es war, als hätte die Nacht sie vergessen.
Und Benjamin Lenz ging zu Rastschuk. Man änderte den Aufmarschplan in Eile. Lenz hatte Kamm das Original gegeben.
»Man muß ehrlich arbeiten!« sagte Benjamin Lenz.
XX
Einige Tage vor dem 2. November verschwand Dr. Trebitsch.
Sein Onkel Artur war aus New York angekommen. Er besaß ein Schiffskartenbüro. Er sagte »well« und schob die Unterlippe vor. Er trug sein Geld in der Hosentasche, viel Geld, deutsches Geld. Für Dollars hatte er ein Scheckbuch.
Er stammte aus Österreich und war vor einer Assentkommission geflüchtet. Das war dreißig Jahre her. Jetzt hatte Artur keine Haare mehr. Er hatte Söhne und Töchter. Die Söhne hatten in der amerikanischen Armee gedient. Es waren tapfere Söhne, sie gaben dem Militär, was ihm der Vater durch die Flucht vor der Assentkommission entzogen hatte.
Er war Witwer, der Onkel Trebitschs. Zum erstenmal nach zwanzig Jahren kam er wieder nach Europa. Er hieß Trewith.
Er erschrak vor dem Bart seines Neffen. Er lachte viel und laut und schlief jede Nacht mit zwei Mädchen.
Er fragte den Dr. Trebitsch, ob er nicht nach Amerika wolle. Was sollte ein Mensch in Europa? Es stank und faulte. Es war ein Leichnam.
Dr. Trebitsch sagte: »Ja!« Der Onkel kabelte nach New York. Er ging zum amerikanischen Konsul. Er zog die Hand aus der Hosentasche und benahm sich auch sonst höflich.
Plötzlich liebte er seinen Neffen sehr. Artur Trewith weinte gerührt, weil dieser kleine Junge, den er selbst noch in der Wiege gesehen hatte, jetzt einen langen, rotblonden, wallenden Bart trug, wie ein Prediger.
So etwas konnte sich ereignen!
Der Bruder Adolf war tot. Die Schwägerin war tot. Weit und breit fand man in Europa nur einen blutsverwandten Menschen, und der trug einen langen Bart! Es war rührend.
Der Onkel Trewith blieb und wartete auf seinen Neffen.
Dr. Trebitsch telegraphierte um Geld nach München. Dann ging er zu Major Pauli. Dann zählte er den Bestand seiner Kasse.
Jeden Tag liefen Schecks ein. Trebitsch telephonierte an alle, die für die Technische Nothilfe gezeichnet hatten.
Auch Efrussi schickte seinen Beitrag. Ein Großunternehmerverband gab einen Vorschuß aus Furcht vor dem 2. November.
Trebitsch vergaß niemanden.
Er ging in die Redaktion der »Deutschen Zeitung«. Sie hatte für ein verunglücktes Mitglied der Technischen Nothilfe gesammelt. Die Spenden holte Trebitsch ab.
Er vergaß niemanden.
Einen Tag vor seiner Abreise ließ er sich den Bart scheren.
Mit einem glatten Knabengesicht überraschte er seinen Onkel im Hotel. Der Onkel Trewith weinte vor Freude.
Dann schrieb Trebitsch einen einzigen Abschiedsbrief an Paula vom Amt für Landesverteidigung.
»Du wirst mich nie mehr sehn!« schrieb Trebitsch.
Und Paula lief zu Trebitsch: die Post hatte ihr den Brief noch vor dem Büro gebracht. Die Wohnung war verschlossen.
Als sie hinunterging, begegnete ihr auf der Treppe ein junger Mann mit einem Kindergesicht, der sie nicht beachtete, obwohl sie einen zitronengelben, auffallenden Hut hatte. Das ärgerte Paula. Aber größer war ihr Kummer um den Dr. Trebitsch. So ging sie weiter, sah draußen ein Automobil, in dem ein alter Amerikaner saß und eine Zigarre rauchte.
Theodor kam zweimal, er fand Trebitschs Wohnung versperrt. Theodor kam einen Tag später mit Benjamin Lenz. Lenz brachte einen Haken, leicht ging die Tür auf, sie war nicht verschlossen.
Sie fanden die Schränke offen. Die Schubläden offen. Einen umgeworfenen Stuhl. Alte Kleider. Schmutzige Wäsche.
Sie telephonierten zu Major Pauli: er wußte nichts. Nur, daß Trebitsch Geld genommen hatte.
Sie fragten den Verlag der »Deutschen Zeitung« an. Man wußte nichts. Nur, daß Trebitsch Geld geholt hatte.
Da setzte sich Lenz auf das Sofa und dachte nach.
»Er ist geflohen, Lohse!« sagte Benjamin.
Um neun Uhr morgens fiel die Brücke im Hamburger Hafen. Dr. Trebitsch stand an Bord der »Deutschland«.
Sein Onkel Trewith lief noch einmal hinunter, erblickte ein Mädchen unter den Zuschauern; wie schön, daß sie gekommen war. Gestern hatte sie es ihm versprochen. Er küßte sie laut. Alle sahen zu.
Dann lief er zurück, die Glocke läutete.
Er lief, so daß seine glatten, starken Backen wackelten.
Er stand und winkte mit einem großen Taschentuch. Der Dr. Trebitsch winkte auch.
XXI
Viele kannten Benjamin: den Journalisten Pisk; den Filmagenten Brandler; den Statisten Neumann; den Schwarzkünstler Angelli; den Reiseschriftsteller Bertuch.
Der Journalist Pisk war ein wertvoller Mann. Er schrieb für jüdische Blätter. Bilder aus der Gesellschaft. Aus der alten und aus der neuen Gesellschaft. Wenn eine Prinzessin starb, schrieb er.
Aber über den Kapitän Ehrhardt schrieb er auch. Er schrieb den Werdegang Noskes. Er schrieb die Vergangenheit Ludendorffs. Er schrieb die Kadettengeschichten Hindenburgs. Er schrieb über Krupp. Er schrieb über Stinnes’ Töchter und Söhne.
Er schrieb über Theodor Lohse, weshalb sollte man über Theodor Lohse nicht schreiben? »Er ist der Mann der Zukunft!« sagte Benjamin Lenz.
Pisk hatte ein abstehendes Ohr. Er trug seinen breitrandigen Hut schief, so daß die Krempe sein Ohr beschattete. Und er trug den Hut im Café auch, er wollte nicht durch sein Ohr auffallen. So konnte niemand sagen, er hätte einen Schönheitsfehler. Man sagte höchstens, er könne sich nicht benehmen. Aber das sagte man ohnehin.
Aber wenn er mit Theodor Lohse in der Likörstube saß, hatte er doch den Hut abgelegt. Das bedeutete eine Ergebenheit, die sich nicht scheut, Opfer zu bringen.
Und Benjamin schließt daraus, daß Pisk sehr viel über Theodor zu schreiben gesonnen ist.
Es stehen in der