Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
einen starken Parfüm-und Likörgeruch und stellt vor: »Fräulein Toni, unsere Neueste!«
»Brav!« schrie ein Herr, es war Herr Kanner, ein Anilinfabrikant, wie mir Glanz erklärte. »Tonka«, sagte er und knipste mit Daumen und Zeigefinger wohlgelaunt, streckte die Linke aus und tastete nach Tonkas Hüfte.
»Wo stecken die Mädchen?!« schrie Jakob Streimer, »was ist das überhaupt für eine Bedienung? Hier sitzen die Herren Neuner und Anselm Schwadron, sie werden behandelt wie – ich sag’ nicht wer …« Ignatz glitt durch den Raum und brachte fünf der nackten Mädchen, verteilte sie auf fünf Tische. Frau Kupfer sagte: »Wir haben nicht mit so viel Gästen gerechnet.«
Anselm Schwadron und Philipp Neuner, die Fabrikanten, standen gemeinsam auf, winkten zwei Mädchen heran und bestellten Prünelle gemischt.
Ein Gast trat ein, von allen mit großem Geschrei begrüßt, die Mädchen schienen vergessen, sie saßen auf kleinen Stühlchen wie abgelegte Gegenstände.
Der Gast ruft: »Bloomfield ist heute in Berlin!«
»In Berlin«, wiederholen alle.
»Wann kommt er?« fragt der Anilinfabrikant Kanner.
»Er kann jeden Tag eintreffen!« sagt der Neuangekommene.
»Und grad jetzt müssen meine Arbeiter streiken«, sagt Philipp Neuner, der ein Deutscher ist, groß, rotblond, stiernackig, mit einem runden, starken Kindergesicht.
»Einigen Sie sich, Neuner!« ruft Kanner.
»20 Prozent Zulage für die Verheirateten?« fragt Neuner, »können Sie das zahlen?«
»Ich gebe Zulage für jedes neugeborene Kind«, trumpft Kanner auf; »und seitdem ist ein Kindersegen auf meine Arbeiter hereingebrochen. Ich wünsche allen meinen Feinden eine so fruchtbare Arbeiterschaft. Die Kerle legen sich selbst herein, predige ich immer, aber ein Arbeiter verliert den Verstand für zwei Prozent vom Gehalt und macht mir ein Schock Kinder.«
»Sie ihm auch!« sagt Streimer gelassen.
»Ein Fabrikant ist kein Häusermakler! Merken Sie sich das!« schnarrt Philipp Neuner. Er hat einmal bei der Garde gedient, als Einjähriger.
»Ein Duellant«, sagt Glanz.
»Mehr als ein Fabrikant«, sagt Streimer, »hier ist nicht Preußen.«
Ignatz stürzt mit einem Telegramm herein. Er weidet sich an dem neugierigen Schweigen der Gesellschaft, zwei, drei Sekunden lang. Dann sagt er leise, daß man ihn kaum versteht:
»Ein Telegramm von Herrn Bloomfield. Er kommt Donnerstag und bestellt Nummer 13!«
»13? – Bloomfield ist abergläubisch«, erklärt Kanner.
»Wir haben nur 12a und 14«, sagt Ignatz.
»Malen Sie eine 13 hin«, sagt Jakob Streimer.
»Ei des Kolumbus! Bravo, Streimer!« ruft Neuner versöhnt und streckt Streimer die Hand entgegen.
»Ich bin ein Häusermakler«, sagte der und verbarg die Hand in der Hosentasche.
»Keinen Streit bitte«, ruft Kanner, »wenn Bloomfield kommt!«
Ich gehe in den siebenten Stock, mir scheint es plötzlich, daß Stasia mir begegnen muß. Aber Hirsch Fisch tritt mit seinem Nachtgeschirr aus dem Zimmer.
»Bloomfield kommt! Glauben Sie? –«
Ich höre ihn nicht mehr.
IX
Santschin ist plötzlich erkrankt.
»Plötzlich«, sagen alle Leute und wissen nicht, daß Santschin zehn Jahre lang unaufhörlich gestorben ist. Tag für Tag. Im Simbirsker Lager war vor einem Jahr auch einer so plötzlich gestorben. Ein kleiner Jude. Er fiel eines Nachmittags, während er sein Eßgeschirr putzte, hin und war tot. Er lag auf dem Bauch, streckte alle viere von sich und war tot. Damals sagte jemand: »Ephraim Krojanker ist plötzlich gestorben.«
»Nummer 748 ist plötzlich erkrankt«, sagen die Zimmerkellner. Es gab in den drei höheren Stockwerken des Hotel Savoy überhaupt keine Namen. Alle hießen nach den Zimmernummern.
Nummer 748 ist Santschin, Wladimir Santschin. Er liegt halb angekleidet auf dem Bett und raucht und will keinen Arzt.
»Es ist eine Familienkrankheit«, sagt er. »Es sind die Lungen. Bei mir wären sie vielleicht gesund geblieben, denn als ich geboren wurde, war ich ein starker Kerl und schrie, daß sich die Hebamme Watte in die Ohren stopfen mußte. Aber aus Bosheit und vielleicht, weil kein Platz war in dem kleinen Zimmer, legte sie mich aufs Fensterbrett. Und seitdem huste ich.«
Santschin liegt, nur mit einer Hose bekleidet, auf dem Bett, barfuß. Ich sehe, daß seine Füße schmutzig sind und seine Zehen von Hühneraugen und allerlei unnatürlichen Verkrümmungen verunstaltet. Seine Füße erinnern an seltsame Waldwurzeln. Seine großen Zehen sind gekrümmt und bucklig.
Er will keinen Arzt, weil sein Großvater und sein Vater auch ohne Arzt gestorben sind.
Hirsch Fisch kommt und bietet einen heilkräftigen Tee an und hofft, den Tee »preiswert« zu verkaufen.
Als er sieht, daß niemand den Tee will, bittet er mich hinaus: »Vielleicht wollen Sie ein Los kaufen?«
»Geben Sie her«, sage ich.
»Die Ziehung ist nächsten Freitag, es sind sichere Nummern.« Es waren die Zahlen 5, 8 und 3.
Stasia läuft atemlos herbei, sie hat Ignatz mit dem Lift nicht erwarten können. Ihr Gesicht ist gerötet, Haarsträhnen umflattern es.
»Sie müssen mir Geld geben, Herr Fisch«, sagt sie, »Santschin muß einen Arzt haben.«
»Dann kaufen Sie auch den Tee«, sagt Fisch und sieht mich verstohlen an.
»Ich werde den Arzt bezahlen«, sage ich und kaufe den Tee.
»Bleiben Sie ruhig, Herr Santschin«, sage ich auf russisch. »Stasia ist um den Arzt gegangen.«
»Warum sagt man mir das nicht?« fährt Santschin auf. Ich drücke ihn mühsam aufs Bett. »Man muß die Fenster aufmachen, Weib, hörst du? Man muß den Kübel ausschütten, und die Asche muß verschwinden. Der Doktor wird mir natürlich das Rauchen vorwerfen. Darin sind sich alle Doktoren gleich. Und außerdem bin ich nicht rasiert. Reichen Sie mir mein Messer. Es liegt auf der Kommode.«
Aber das Rasiermesser liegt nicht auf der Kommode. Frau Santschin findet es im Nähzeug, weil sie es statt einer Schere benutzt hat, um Hosenknöpfe abzutrennen.
Ich muß Santschin ein Glas Wasser geben; er befeuchtet sein Gesicht, zieht einen Taschenspiegel aus der Hose, hält ihn vor sich in der Linken, verzieht den Mund, streckt die Zunge hinter die rechte Backe, daß sich die Haut strafft, und rasiert sich ohne Seife. Er kratzt sich nur einmal – »weil Sie mir zusehn«, sagt er, und ich sehe beschämt in irgendeine Ecke. Dann legt er ein Zigarettenpapier auf die verwundete Stelle.
»Jetzt kann der Doktor kommen.«
Den Doktor kannte ich. Er saß täglich im Fünf-Uhr-Saal des Hotels. Er ist Militärarzt gewesen. Man sieht ihm eine lange Dienstzeit an, er hat den festen, klirrenden Gang pensionierter Offiziere, eine gewölbte Brust.
Kleine Sporen trägt er noch, trotz Zivilkleidung und langen Hosen, an den Absätzen. Von seiner gereckten Gestalt, seinen metallenen Augen, seiner starken Stimme geht ein Glanz aus wie von Kaisermanövern.
»Nur der Süden kann Sie retten«, sagt der Doktor. »Aber wenn Sie nicht nach dem Süden gehn, muß der Süden zu Ihnen kommen, warten sie.« – Der Doktor geht mit klirrendem Schritt auf die Tür zu und klingelt. Er klingelt ausdauernd, spricht, während er mit dem Daumen den Klingelknopf drückt; es