Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
es geschah, daß Theodor wirklich eine Antwort erhielt. Er las und wuchs bei jedem der kurzen, metallenen Worte. »Lieber Freund!« schrieb der General, »Sie gefallen mir. Arbeiten Sie fleißig mit Gott für Freiheit und Vaterland. Ihr Ludendorff.«
Theodor las den Brief: in der Bahn, an der Haltestelle, im Kolleg und während er aß. Ja, mitten im Gewühl der Straßen erfaßte ihn Verlangen nach dem Brief. Es zog ihn zu einer der kleinen Bänke am Rande eines Rasens hin, auf die er sich niemals gesetzt hätte, aus Widerwillen gegen die plebejischen und von Menschen niederen Schlages bevölkerten Sitzgelegenheiten. Heute war er meilenweit von den Menschen entfernt, mit denen er dieselbe Bank teilte. Er las den Brief und wanderte weiter, um sich nach zehn Minuten wieder zu setzen.
Wie ein frommer Bibeldeuter im Text der Heiligen Schrift, so fand Theodor in den Zeilen des Generals immer wieder einen neuen Sinn. Bald kam er zu der Überzeugung, daß Ludendorff von Theodor Lohses Eintritt in die Geheimorganisation wisse. Trebitsch mußte es ihm mitgeteilt haben. War Theodor nicht ein persönlicher Freund des Prinzen? Zwischen der Absendung des Briefes und dem Eintreffen der Antwort lagen acht Tage. Also hat sich Ludendorff in Berlin erkundigt. »Mein lieber Freund!« schrieb der General. So schreibt man einem, der mehr verspricht, als er schon geleistet hat.
Theodor begab sich in die »Germania«, in deren Lesesaal der Germanist Spitz einen Vortrag über Rassenprobleme hielt. Wilhelm Tiedemann und andere vom Bunde deutscher Rechtshörer waren anwesend. Zuerst las Tiedemann den Brief. Auf seine Einsicht konnte sich Theodor verlassen. Und Tiedemann war ebenso wie Theodor überzeugt, daß Ludendorff seines neuen Freundes Persönlichkeit schon längere Zeit kennen mußte.
Alle sagten es Theodor, alle waren seine Freunde. Aus aller Augen strömte ihm Liebe entgegen. Jedes einzelnen Herzschlag hörte er, und das Pochen ihrer Herzen war die Sprache der Freundschaft. Er lud sie ein. Er legte seinen Arm um Tiedemanns Schultern. Man trank auf Kosten Theodors. Man ließ ihn hochleben. Er sprach viel, und noch mehr fiel ihm ein. Als er fortging, trug er ein gewaltiges Geräusch seiner eigenen Worte davon.
Der nächste Morgen brachte ihm eine Einladung zum Detektiv Klitsche. Er hätte keine Briefe zu schreiben. An Ludendorff am allerwenigsten. Noch weniger hätte er darüber reden sollen. Er wäre nicht der einzige im Bunde der Rechtshörer, der zur Organisation gehörte, und jedes Wort, das er gestern gesagt, war Klitsche hinterbracht worden.
»Geben Sie den Brief her!« sagte Klitsche.
Theodor wurde rot. Flammende Räder kreisten vor seinen Augen. Er war plötzlich der kleine Einjährige und stand im Kasernenhof. Er nahm vorschriftsmäßig stramme Stellung an. Er war ein kleiner Einjähriger mit der Aussicht auf einen Gefreitenknopf.
Er gab den Brief her. Klitsche steckte ihn ein. Er befahl:
»Ziehen Sie sich aus!«
Und Theodor zog sich aus. Als wäre es ganz selbstverständlich, zog er sich aus. Er dachte daran, daß er Klitsche gehorchen müsse.
Und langsam und gleichgültig zog er sich wieder an, so langsam und gleichgültig wie in seinem Zimmer des Morgens, wie alle Tage.
Es war Frühling in den Straßen, es zwitscherten übermütige Vögel, die Straßenbahnen klingelten, die Luft war blau, die Frauen trugen leichte Kleider.
Theodor möchte krank sein und ein kleiner Junge und in seinem Bett liegen. Er trank in Schnapsbuden zweiten Ranges und schlief mit Mädchen vom Potsdamer Platz, weil sein Geld zur Neige ging. Und als er nichts mehr hatte, empfand er die rauschende Buntheit der Straße tausendmal stärker und seine eigene Kleinheit. Und er vergaß den Besuch bei Klitsche, wie er den beim Prinzen Heinrich vergraben hatte. Über Abhänge und durch Niederungen führte der Weg.
V
Sein Weg führte vorläufig zu der Wohnung des Malers Klaften.
Theodor hieß Friedrich Trattner und war Genosse aus Hamburg. Moderne Bilder sah er bei Klaften, farbenrauschende Fanfaronaden, gelbe, violette, rote. Die Augen schmerzten, wenn man sich von den Bildern abwendete, wie wenn man in die Sonne gesehen hätte. Theodor sagte: »Sehr schön!«
Seine Bewunderung genügte allen und ersetzte die Legitimation. Man sagte Genosse Trattner zu ihm. Er trug seinen neuen Namen mit Inbrunst. Er, den jede neue Situation überraschte, erschüttern konnte, jetzt erfand er selbst Situationen, abenteuerliche Ausbrüche aus Gefängnissen, plötzliche Flucht vor auftauchenden Spitzeln, Prügeleien mit Polizei und Studenten.
Theodor wuchs in Friedrich Trattner hinein. Durch den Körper dieser Figur, die er spielte, ging es zu Ansehen und Geltung. Es war wie eine Gefreitencharge beim Militär, die man ganz durchkosten mußte, ehe man weiterkam. Man hatte sie bald überstanden. Man gab sich Mühe, ihrer würdig zu sein, aber nur, um aus ihr schlüpfen zu können.
Neue Menschen lernte Theodor kennen. Den Juden Goldscheider, der die Güte predigte und bei jeder Gelegenheit das Neue Testament zitierte. War er ein Bolschewik oder nur ein Jude? Goldscheider selbst erzählte von seinem Aufenthalt in Irrenhäusern. Er war gewiß närrisch. Er sagte manchmal Unverständliches. Die anderen täuschten Verständnis vor.
Es war eine harmlose Gesellschaft junger armer Menschen ohne Obdach. Sie bekamen Logis und einen Kaffee vom Maler Klaften. Der Maler lebte von unmodernen Bildern, die allgemein in der Gesellschaft Kitsch genannt wurden. Theodor hielt sie für die besten Werke Klaftens.
Theodor hörte die jungen Leute fluchen. Sie sahen den Tag der großen Revolution greifbar nahe. Sie fluchten auf sozialistische Abgeordnete und Minister, die Theodor immer für Kommunisten gehalten hatte. Er verstand so feine Unterschiede nicht.
Der Maler Klaften porträtierte Theodor. Er erschrak vor seinem eigenen Bildnis. Es war, als hätte er in einen furchtbaren Spiegel gesehen. Sein Angesicht war rund, rötlich, die Nase platt, mit leise angedeuteter Spaltlinie auf dem breiten, flachen Rücken. Der Mund war breit, mit aufgeworfenen Schaufellippen. Der kleine Schnurrbart verhüllte die wirkliche Lippe zwar, aber die gemalte nicht. Es war, als hätte der Maler den Bart wegrasiert – und er hatte ihn doch mitgemalt.
Es ist mißlungen, dachte Theodor. Das Bild hing im Zimmer und verriet ihn. Alle, die das Porträt sahen, wurden schweigsam und betrachteten Theodor verstohlen. Er fühlte sich fast entlarvt und wäre vor diesem Bild geflohen, wenn nicht der junge Kommunist Thimme eingetroffen wäre.
Thimme hatte Ekrasit im Keller eines sicheren Gastwirtes eingelagert. Er wollte es im Dienst der Revolution explodieren lassen. Er sprach von der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Tat und fand Zustimmung bei allen, bei Theodor Begeisterung.
Theodor hörte mit tausend Ohren. Tausend Arme hätte er bereithalten mögen. Er entsann sich jener Spinne in den Sommerferien seiner Knabenzeit, die er jeden Tag mit gefangenen Fliegen gefüttert hatte; des atemlosen Wartens auf das hastige Heranklettern des Tieres, sein sekundenlanges Lauern, den letzten todbringenden Anlauf, der Sturz und Sprung und Fall in einer Bewegung war.
So saß er jetzt selbst, sturzbereit, zum Sprunge entschlossen. Er haßte diese Menschen, wußte nicht, weshalb, und führte für sich selbst Gründe seines Hasses an. Sie waren Sozialisten, Vaterlandslose, Verräter. In seiner Gewalt waren sie. Oh, er hatte Gewalt über fünf, sechs, zehn Menschen. Er hatte wieder Macht über Menschen, Theodor Lohse, der Hauslehrer, Jurist, vom Detektiv Klitsche Erniedrigte, vom Prinzen Mißbrauchte, von seinen Kameraden Verratene. Alle sahen das Feuer in seinem Auge, seine geröteten Wangen. Er betrachtete Thimme, den jungen verhungerten Thimme, einen Glasbläser mit sichtbarer Tuberkulose, den dunklen Tod trug er in den tiefschattenden Augenhöhlen. Er betrachtete Thimme als sein Wild, seinen Menschen, sein Eigentum.
Er kostete seine Verborgenheit wie eine labende Nahrung. Er rückte ins Dunkel. Er spreizte die Finger in den Hosentaschen. Er beugte den Oberkörper vor. Er nahm, ohne es zu wissen, die lauernde Haltung seiner Spinne an.
Sie stritten über das Objekt ihres Angriffs. Einige wollten den Reichstag,