DAS HERZ-SUTRA. Osho
du warst nie heimgekommen.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer ging einmal eine einsame Straße entlang. In Gedanken vergraben rempelte er einen anderen Passanten an. Wütend gemacht durch den Stoß und die offensichtliche Gleichgültigkeit des Philosophen, schrie der Fußgänger: „Sie, was glauben Sie, wer Sie sind!“
Immer noch in Gedanken verloren sagte der Philosoph: „Wer ich bin? Ach, wüsst ich’s!“
Niemand weiß es. Mit diesem Wissen – dass ich nicht weiß, wer ich bin – beginnt die Reise.
Das erste Sutra:
Ehre der vollkommenen Weisheit,
der lieblichen, der heiligen!
Das ist eine Anrufung. Alle indischen Schriften beginnen mit so einer Anrufung, aus einem besonderen Grund. In anderen Ländern und anderen Sprachen ist das nicht so – in Griechenland zum Beispiel. Was die Inder damit sagen wollen ist, dass wir hohler Bambus sind, nur Gefäße, durch die das Unendliche strömt. Das Unendliche muss angerufen werden, und wir werden einfach nur zu seinem Instrument. Wir rufen es an, wir rufen es herbei, auf dass es durch uns ströme. Darum weiß auch niemand, wer dieses Herz-Sutra schrieb. Es ist nicht unterzeichnet worden, denn derjenige, der es schrieb, hielt sich nicht für den Autor. Er war rein instrumentell. Er war einfach nur wie ein Stenotypist – das Diktat kam von jenseits. Es wurde ihm diktiert, er hat es getreu aufgeschrieben, aber er ist nicht der Autor davon – allerhöchstens der Schreiber.
Ehre der vollkommenen Weisheit,
der lieblichen, der heiligen!
Dies also die Anrufung – ein paar Wörter, aber jedes Wort ist sehr, sehr bedeutungsgeladen.
Ehre der vollkommenen Weisheit …
,Vollkommene Weisheit‘ ist die Übersetzung für Prajnaparamita. Prajna heißt Weisheit. Merkt euch, es heißt nicht Wissen. Wissen ist das, was durch den Verstand kommt, Wissen ist das, was von außen kommt. Wissen ist niemals ursprünglich. Es kann nicht ursprünglich sein, seiner ganzen Natur nach ist es geborgt. Weisheit ist eure ursprüngliche Klarsicht: Sie kommt nicht von außen, sie wächst in euch heran. Sie ist nicht wie eine künstliche Plastikblume, die ihr bloß auf dem Markt zu kaufen braucht. Sie ist eine wirkliche Rose, die am Stamm wächst, durch den Stamm. Sie ist das Lied des Stammes. Sie kommt aus seinem innersten Kern, sie steigt aus seinen Tiefen herauf – gestern noch unausgedrückt, heute ausgedrückt. Gestern war sie unmanifest, heute ist sie manifest geworden.
Prajna heißt Weisheit, aber in der englischen Sprache hat sogar Weisheit einen anderen Beigeschmack. Im Deutschen heißt Wissen: ohne Erfahrung. Du gehst zur Universität und häufst Wissen an. Weisheit bedeutet: Du gehst zum Leben und sammelst Erfahrung. Ein junger Mann also kann viel wissen, aber nie weise sein, denn Weisheit benötigt Zeit. Ein junger Mann kann akademische Grade haben, er kann ein Dr. phil. sein oder ein Dr. med. – das ist nicht schwer; aber nur ein alter Mann kann weise sein. ‚Weisheit‘ heißt ein Wissen, das man durch die eigene Erfahrung gesammelt hat, aber es kommt immer noch von außen.
Prajna ist weder Wissen noch Weisheit im üblichen Sinne. Es ist ein inneres Aufblühen, nicht durch Erfahrung, nicht durch andere, nicht einmal durch das Leben und die Konfrontationen des Lebens, nein – sondern einfach dadurch, dass man in absoluter Stille nach innen geht und dem, was dort verborgen ist, zu explodieren erlaubt …
Du trägst Weisheit als Saat in dir, sie braucht nur den richtigen Boden, sodass sie sprießen kann. Weisheit ist immer ursprünglich. Sie ist immer deine, und nur deine. Aber führt euch noch einmal vor Augen: Wenn ich deine sage, meine ich damit nicht, dass dabei irgendein Ego ins Spiel kommt. Sie ist deine in dem Sinne, dass sie aus deiner Selbst-Natur kommt, aber sie erhebt keinerlei Anspruch auf irgendein Ich – denn das Ego ist wiederum Teil des Verstandes, nicht deiner inneren Stille.
Paramita bedeutet jenseitig – aus dem Jenseits, jenseits von Zeit und Raum, wenn du in einen Zustand gelangst, wo die Zeit verschwindet, wenn du zu einem inneren Ort gelangst, wo der Raum verschwindet, wenn du nicht weißt, wo du bist und wann, wenn diese beiden Bezugspunkte verschwunden sind. Die Zeit ist außerhalb von dir und genauso ist der Raum außerhalb von dir. Es gibt einen Schnittpunkt in dir, wo alle Zeit verschwindet.
Jemand fragte Jesus: „Sag uns bitte etwas über das Reich Gottes. Was gibt es da Besonderes?“ Und Jesus soll gesagt haben: „Dort wird es keine Zeit mehr geben.“ Dort herrscht Ewigkeit, ein zeitloser Augenblick. Das ist das Jenseits – ein raumloser Raum und ein zeitloser Augenblick. Du bist nicht länger begrenzt, du kannst nicht mehr sagen, wo du bist.
Nun, seht mich an: Ich kann nicht sagen: „Ich bin hier“, weil ich auch dort bin. Und ich kann nicht sagen: „Ich bin in Indien“, weil ich auch in China bin. Und ich kann nicht sagen, dass ich auf diesem Planeten bin, denn ich bin es nicht. Wenn das Ego verschwindet, bist du einfach eins mit dem Ganzen. Du bist überall und nirgends. Du existierst nicht als separate Wesenheit, du hast dich aufgelöst.
Seht! Am Morgen, auf einem schönen Blatt, schillert ein Tautropfen in der Morgensonne, unaussprechlich schön. Und dann fängt er an zu gleiten, und er gleitet in den Ozean. Auf dem Blatt war er da: Zeit und Raum waren da, er hatte seine eigene Definition, seine Persönlichkeit. Nun, da er in den Ozean geglitten ist, könnt ihr ihn nirgendwo wiederfinden – nicht, weil er nicht-existent geworden wäre, nein. Jetzt ist er überall – darum ist er nirgendwo mehr zu finden. Ihr könnt ihn nicht lokalisieren, weil der ganze Ozean sein Aufenthaltsort geworden ist. Jetzt existiert er nicht mehr getrennt.
Wenn du nicht getrennt von der Existenz existierst, taucht Prajnaparamita auf, die Weisheit, die vollkommen ist, die Weisheit, die vom Jenseits ist.
Ehre der vollkommenen Weisheit,
der lieblichen, der heiligen!
Eine wunderschöne Anrufung … Sie besagt: Ich ehre die Weisheit, die kommt, wenn man ins Jenseits eingeht. Und sie ist lieblich, und sie ist heilig – heilig, weil du heil, das heißt eins mit dem Ganzen geworden bist; lieblich, weil jenes Ego, das nur Hässlichkeit in dein Leben gebracht hatte, nicht mehr ist.
Satyam, Shivam, Sunderam: es ist wahr, es ist gut, es ist schön. Das sind die drei Eigenschaften. Ehre der vollkommenen Weisheit … Wahrheit. Und genau das ist das Wahre oder die vollkommene Weisheit; das Liebliche – das Schöne; das Heilige – das Gute. Warum wird sie heilig genannt? – weil Buddhas aus ihr geboren werden. Sie ist der Mutterschoß der Buddhas. Du wirst in dem Moment ein Buddha, wo du dieser vollkommenen Weisheit teilhaftig wirst. Du wirst ein Buddha, wenn der Tautropfen im Ozean verschwindet, sein Trennendes verliert, nicht mehr gegen das Ganze kämpft, sich aufgibt, mit dem Ganzen ist, nicht länger gegen es.
Daher bestehe ich so darauf, mit der Natur mitzugehen. Seid niemals gegen sie! Versucht nie, sie zu überwinden, versucht nie, sie zu erobern, versucht nie, sie zu besiegen. Wenn ihr versucht, sie zu besiegen, seid ihr zum Scheitern verurteilt, weil der Teil nicht das Ganze besiegen kann – aber genau das versucht jeder. Daher so viel Frustration, weil offenbar alle Leute Gescheiterte sind. Alle versuchen sie, das Ganze zu besiegen, den Fluss anzutreiben. Natürlich wirst du eines Tages davon müde, erschöpft – man verfügt nur über eine sehr begrenzte Energiequelle, und der Fluss ist riesig. Eines Tages reißt er dich mit, und du gibst vor lauter Frustration auf.
Wenn du dich mit Freuden aufgeben kannst, wird daraus Hingabe. Dann ist es nicht mehr Niederlage, sondern wird es Sieg. Man gewinnt nur mit Gott, niemals gegen Gott. Und denkt daran, Gott hat nicht die Absicht, euch zu besiegen. Eure Niederlage ist selbstverursacht. Ihr werdet besiegt, weil ihr kämpft. Wenn ihr besiegt werden wollt, dann kämpft; wenn ihr gewinnen wollt, dann ergebt euch. Dies ist das Paradoxon: dass alle, die bereit sind, sich aufzugeben, zu Siegern werden. Die Verlierer sind die einzigen Gewinner in diesem Spiel. Versucht zu siegen, und eure Niederlage steht absolut fest – wann, ist nur eine Frage der Zeit. Aber sie steht fest, sie wird kommen.
Heilig ist es, weil du dann eins bist mit dem Ganzen.
Du pulsierst mit ihm, du tanzt mit ihm, du singst mit ihm. Du bist wie ein Blatt im Winde: Das Blatt tanzt einfach mit dem Wind, es hat keinen eigenen Willen. Diese Willenlosigkeit