Moses und das Mädchen im Koffer. Ortwin Ramadan

Moses und das Mädchen im Koffer - Ortwin Ramadan


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eingetreten sein. Dass die Unbekannte dem Drogen- oder Prostituiertenmilieu angehörte, hielt er für unwahrscheinlich. Der sportliche Körperbau, die makellose Haut und die weißen Zähne ließen auf eine gesunde Lebensweise schließen. So sah niemand aus, der im Elend lebte. Was ihn ebenfalls irritierte, war das übertriebene Make-up in dem kindlichen Gesicht der Toten. Jemand hatte großen Aufwand darauf verwendet. Mit einem Mal stutzte er. Er beugte sich näher über die Leiche und drehte mit zwei Fingern ihren Kopf leicht zur Seite. Eine Schnittwunde zog sich quer über die linke Wange und war sorgfältig genäht worden.

      »Stammt vermutlich von einem nicht sehr scharfen Gegenstand«, bemerkte Janssen, der Moses’ Tun mit dem Unbehagen eines Kriminaltechnikers verfolgte. »Vielleicht eine Scherbe oder ein Stück Metall. Aber das weiß die Gerichtsmedizin besser.«

      Nach Moses’ Empfinden passte die Narbe nicht ins Bild. Sie störte das perfekte Antlitz des Mädchens. Gleichzeitig deutete sie auf eine Moses noch unbekannte Geschichte, die längst nicht zu Ende war.

      »Was habt ihr sonst noch gefunden?«, fragte er über die Schulter hinweg und merkte, dass Helwig reglos hinter ihm stand.

      »Auf den ersten Blick nichts«, erwiderte Janssen. »Falls es Spuren an der Leiche oder dem Koffer gibt, finden wir die vermutlich erst im Labor. Am besten transportieren wir den Koffer, so wie er ist, in die Gerichtsmedizin. Und zwar so schnell wie möglich!« Er reckte das unrasierte Kinn nach oben, wo sich das Zeltdach unter der Last des Regenwassers bereits gefährlich durchbog.

      »Ich bin gespannt, was die Obduktion ergibt«, sagte Moses gedankenverloren. Er ließ den Kopf des Mädchens behutsam in seine ursprüngliche Lage zurücksinken.

      »Von so einem bizarren Mord habe ich noch nie gehört«, sagte Helwig tonlos. Sie starrte auf die Leiche. »Wer tötet bloß ein kleines Mädchen, richtet es so her und schmeißt es dann in einem Koffer ins Wasser?«

      Moses schloss den Kofferdeckel und stand auf. »Am besten warten wir erst einmal die Obduktion ab. Wenn wir die Todesursache kennen, wissen wir vielleicht mehr. Alles andere ist im Moment reine Spekulation.«

      Insgeheim stimmte er seiner jungen Kollegin jedoch zu. Auch er vermutete, dass sie es mit einem Verbrechen zu tun hatten. Obgleich mit einem sehr befremdlichen. Der gewöhnliche Mörder bettete sein Opfer nicht auf Samtkissen und legte Kuscheltiere dazu. Und gewalttätige Psychopathen, die ihre Taten inszenierten, wollten in der Regel, dass ihr abscheuliches »Werk« Beachtung fand. In diesem Fall deutete jedoch einiges darauf hin, dass die versenkte Leiche nur deshalb wieder an die Oberfläche gekommen war, weil die Beschwerung für den abgedichteten Koffer nicht ausgereicht hatte. Zumindest ging Moses im Moment davon aus. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte offenbar den Auftrieb des hölzernen Koffers und der darin eingeschlossenen Luft unterschätzt, denn die schwere Eisenkette hatte zweifellos dafür sorgen sollen, dass der Koffer für alle Zeiten auf dem Grund der Elbe blieb. Das Ganze erinnerte ihn an ein ebenso liebevolles wie makabres Begräbnis.

      »Kann ich mich jetzt um den Abtransport kümmern?«, erkundigte sich Janssen ungeduldig.

      »Ja, tun Sie das«, sagte Moses. »Und bestellen Sie Dr. Kleinhues einen Gruß von mir: Ich will so schnell wie möglich die Todesursache wissen. Das gilt übrigens auch für Sie und Ihre Kollegen: Wenn Sie im Labor etwas finden, das auch nur im Geringsten nach einem Hinweis aussieht, will ich das nicht erst im Abschlussbericht lesen!«

      »Schon klar.« Janssen drehte sich zu seinen Kollegen, die sich ebenfalls unter das Zeltdach quetschten, und gab ein paar Anweisungen. Moses wandte sich an Helwig. »Sie bleiben bitte hier, bis die Leiche verladen ist. Ich werde mal mit den Leuten reden, die den Koffer gefunden haben.«

      Helwigs Gesichtsfarbe hatte immer noch keinen gesunden Farbton angenommen.

      »Aber ich …« Helwig hielt eine Hand vor den Mund und fuhr herum. Sie rannte zum Wasser und übergab sich an den Rand der Buhnensteine.

      »Ihre junge Kollegin ist wohl noch nicht lange dabei«, sagte Janssen, der die Szene beobachtet hatte. Er warf Helwig einen mitfühlenden Blick zu. »Vielleicht wäre sie bei der Sitte besser aufgehoben. Unser Job ist wirklich nichts für so eine zarte Deern …«

      »Sie muss es nur ein paar Mal mitmachen«, sagte Moses, »dann wird sie sich daran gewöhnen. So wie wir alle.« Er wandte den Blick ab und versuchte das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren, das seine Lüge enttarnte. Das Mädchen war praktisch noch ein Kind gewesen. Sie hatte ihr Leben gerade erst zu leben begonnen, und jetzt lag sie tot in einem Koffer. Ausstaffiert wie ein Püppchen.

      Es gab Dinge, an die gewöhnte man sich nie.

      4

      Nele zitterte am ganzen Körper. Das alles konnte nur ein wahnwitziger Albtraum sein. Aber es war kein Traum, denn aus Träumen wachte man irgendwann auf. Sie musste der Realität ins Gesicht blicken: Sie war entführt worden. Sie befand sich in der Gewalt eines Verrückten.

      Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Was sie jetzt brauchte, war ein klarer Kopf. Sie durfte sich nicht von der Panik verschlingen lassen, die wie eine monströse Welle über sie hereinzubrechen drohte. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. So wie es ihre Mutter immer tat, wenn sie im Wohnzimmer auf ihrer Yogamatte saß. So wie sie selbst es vor jedem Auftritt tat, um die eigene Mitte wiederzufinden. Aber es gelang nicht. Ihr Herz pumpte wie wild. Dann krampfte sich plötzlich der Magen zusammen, und sie verspürte eine unbeschreibliche Übelkeit. Nur mit Mühe schaffte sie es noch rechtzeitig in die Badezimmernische, wo sie sich in die Kindertoilette erbrach.

      Die Bauchkrämpfe ließen nach, Nele sank erschöpft zu Boden. »Bitte …«, stammelte sie schwach. »Lassen Sie mich gehen. Bitte …«

      Sie wusste nicht, ob der Entführer sie beobachtete, denn sie erhielt keine Antwort. Auch die mit einer Plexiglaskuppel geschützte Kamera an der Decke bewegte sich nicht. Als sie schon zu hoffen begann, nicht beobachtet zu werden, erfüllte erneut die unheimliche Stimme den Raum.

      »Bitte zieh das Kleid an!«

      Allein der vertrauliche Ton der Stimme versetzte Nele einen glühenden Stich. »Niemals!«, schrie sie mit dünner Stimme. Dann übergab sie sich erneut.

      Sie hatte das Kleid bereits bemerkt. Es war eines der ersten Dinge gewesen, die sie wahrgenommen hatte, als sie auf dem Kinderbett aufgewacht war. Es hing auf einem Mickey-Mouse-Kleiderbügel an dem Spiegelschrank und war zartgelb mit Rüschen aus weißer Spitze.

      »Das ziehe ich nicht an«, stieß Nele erneut hervor und wischte sich mit zitternder Hand den Mund ab. Vor diesem Wahnsinnigen würde sie sich nicht ausziehen. Sie spürte den Blick der Kamera im Nacken.

      »Du bist böse, Claire.«

      »Und Sie sind verrückt«, rief Nele mit dröhnendem Kopf. »Ich heiße nicht Claire!«

      Plötzlich war ein hoher Ton zu hören. Zuerst war er kaum wahrzunehmen, aber dann schwoll er immer weiter an. Er wurde so laut und schrill, dass Nele glaubte, ihre Schädeldecke würde zerspringen. Sie presste die Fäuste gegen die Schläfen und krümmte sich vor Schmerz auf dem kalten Fliesenboden. Der grelle Pfeifton wurde immer lauter. Unerbittlich. Wie eine glühende Nadel bohrte er sich immer tiefer in ihr Hirn. »Aufhören!«, wimmerte sie. »Bitte …!«

      Plötzlich brach der Ton ab, zurück blieben rasende Schmerzen in Neles Ohren. Die Stimme des Unsichtbaren nahm sie wie durch Watte wahr.

      »Du musst tun, was ich dir sage, Claire. Nur dann kann ich auf dich aufpassen. Ich will uns doch nur glücklich machen. So glücklich wie früher.«

      Jetzt konnte Nele sich nicht länger zurückhalten. Sie begann hemmungslos zu weinen.

      5

      Das DLRG-Haus lag auf der anderen Seite der Landungsbrücke. Er musste den gesamten Strandabschnitt wieder zurück. Moses fluchte. Schon nach wenigen Schritten war er versucht, seine nassen und völlig verdreckten Schuhe auszuziehen und den Rest des Weges barfuß zurückzulegen. Aber wenn es sich bei den Zeugen tatsächlich um Blankeneser Rentner handelte, wie Helwig


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